Überwältigend

Auf ihrem gleichermaßen herausfordernden wie großartigen fünften Album „Crooked Wing" begeistern These New Puritans mit komplexen Arrangements und äußerst ungewöhnlichen Ideen.

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30. Mai 2025

These new Puritans: Crooked Wing (Domino Records)

Es mag etwas bedeuten, dass Pop über ein halbes Jahrhundert lang nie richtig mit Musikstilen konnte, die im traditionellen Bildungsbürger-Kanon als „echte Kunst“ anerkannt waren: Versuche, sich mit Jazz zu verbünden, gerieten zwar in Einzelfällen, siehe frühe Blood, Sweat & Tears, The Flock oder East Of Eden, nicht uninteressant, zeigten aber in der Breite keine Nachhaltigkeit.

Mit Klassischer Musik ging zunächst einmal ziemlich gar nichts: Ambitiöse Rockband-und-Symphonieorchester-Kollaborationen von Deep Purple oder Procol Harum und selbst die vergleichsweise hübsche „Snow Goose“ von Camel führten kein integratives Miteinander, sondern ein apartheidartig separiertes Nebeneinander von Rock und klassischen Versatzstücken vor.
Deutungen klassischer Werke durch Progressive-Rock-Akteure wie Emerson, Lake & Palmers Adaption von Modest Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“ fielen, sowohl vom Pop-Publikum wie auch von Klassik-Experten als prätentiöse Anmaßungen verworfen, gleich an beiden Fronten durch.

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Funktionierende Symbiose von Pop mit klassischen Elementen: „We Want War“, These New Puritans 2010

Und der einzige Fall, der wirklich funktionierte, nämlich Jeff Lynne‘s Electric Light Orchestra, war nicht wirklich Klassik-Rock-Crossover*, sondern reiner Pop, der leichthändig auf Mittel und vereinzelt auch Zitate aus der Klassik zurückgriff.

Gelungene Integrationsarbeit

In den letzten Jahren haben black midi und Black Country, New Road vorgeführt, wieviel Energie aus einer funktionierenden Interaktion von Pop, Jazz und Rock gewonnen werden kann.
Mit Klassik gelang die Symbiose schon früher, Ende der Nuller-Jahre. Und einen signifikanten Teil der Beweisführung hat, neben dem kanadischen Sänger, Komponisten, Produzenten und Multiinstrumentalisten Owen Pallett, die britische Formation These New Puritans geleistet.

Die Neuen Puritaner: George & Jack Barnett (© Jeremy Young)

These New Puritans sind im Wesentlichen die Zwillingsbrüder Jack und George Barnett. Jack ist die zentrale Kreativkraft, schreibt alle Songs und Texte, singt, spielt alle möglichen Saiten- und Tasteninstrumente und produziert. George bedient ebenfalls mehrere Instrumente, in erster Linie ist er aber für das donnernde Schlagzeug zuständig, außerdem scheint er eine Art musikalischer Supervisor zu sein.

Eigentlich kommen die These New Puritans vom Post-Punk; häufig wird ihr auf dem Album „Beat Pyramid“ von 2008 dokumentiertes, von atemlosem Sprech-Gesang, heftig heruntergebretterten Gitarren und Trommel-Geknüppel charakterisiertes Frühwerk mit The Fall verglichen.

Hidden“ von 2010 markiert den Wendepunkt: Die Schnellkraft des Debüts verwebt sich mit Holzbläsern, Chören und Streichern; sporadisch eröffnet die Dramaturgie lyrischen Interludien kleine Räume.

Radikaler Einschnitt

Mit ihrer LP „Field Of Reeds“ (2013) gingen These New Puritans noch einen radikalen Schritt weiter und formulierten auch ohne falsche Bescheidenheit den Anspruch, als neoklassisches Ensemble wahrgenommen zu werden.

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„Fragment Two“ vom Album „Fields Of Reeds“ in einer Live-Aufnahme für den „Guardian“

Die Gitarren sind so gut wie völlig eliminiert; um ein meist kontemplatives, verspieltes, hin und wieder auch fröhlich-beschwingtes Piano zentriert, schweben und tänzeln anmutige Streicher, schwirren Stimmen in verschiedenen Höhenlagen, drängen Blechbläser, irrlichtert Elektronik, braust eine Kirchenorgel auf.
Jack Barnetts Gekeife weicht einem melodiösen Schmelz und einer bisweilen fast an Lethargie grenzenden Unaufgeregtheit. Einziges Bindeglied in die laute Vergangenheit ist Georges Getrommel – wenn er in die Felle langt, scheppert’s.

Hochkarätige Erfüllungsgehilfen

„Field Of Reeds“ wurde zu einer Art Prototyp, auf dem im Schaffen der Barnett-Brüder alles Weitere aufbaut. Sein regulärer, großteils in Berlin entstandener Nachfolger „Inside The Rose“ (2019) ist etwas runder und opulenter produziert, aber von der Anlage her ähnlich herausfordernd. Und das ist auch „Crooked Wing“, das fünfte reguläre Album der Neuen Puritaner.

Seit „Field of Reeds“ arbeiten die Barnetts mit hochkarätigen Erfüllungsgehilfen aus allen Genres, auch Jazz und Klassik.
Auf „Crooked Wing“ singt den Opener „Waiting“ und den identischen, als Reprise eingesetzten Schlusssong „Return“ ein zehnjähriger Sopran vom Southend Boys Choir.

Die Barnetts mit Stimm-Artistin Caroline Polachek (© Holly Whittaker)

Weitere Kontributor/innen sind u.v.a. der bekannte Jazz-Bassist Chris Laurence und – als Star-Gast – die universal bewanderte Mainstream-, Indie- und Electro-Pop-Sängerin Caroline Polachek.

Dominanter Klangerzeuger auf „Crooked Wing“ ist die Kirchenorgel. Ihrer zwei Exemplare kommen auf dieser Platte zum Einsatz: Eines steht in Essex in der Nähe des Aufnahmestudios der Barnetts – das andere in Kärnten in einer Kirche zu Ehren des Hl. Bartholomäus (mutmaßlich dürfte es sich um die Pfarrkirche Friesach handeln).
Der wuchtige, apokalyptische wie auch erhebende Klang des Instruments entspricht den Inhalten, die zwar nicht sehr häufig konkrete Geschichten oder Aussagen vermitteln, aber Bilder von unterschiedlichen (Bewusst-)Seinszuständen: Visionen einer Unterwelt, die man sich als Hölle vorstellen kann, ein lähmendes Gefühl von Ohnmacht gegenüber den zerstörerischen Kräften von Maschinen, aber auch Staunen und Ehrfurcht vor der Schönheit der Natur.
Einzigartig ist indes „Industrial Love Song“ als Liebesgeschichte zweier Baukräne auf einer Baustelle.

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Die Ballade ist noch in weiterer Hinsicht bemerkenswert: Zum einen ist sie für „Crooked Wing“ der besonders schöne Song, der sich seit „Field Of Reeds“ auf jeder TNP-LP findet (dort war es „Fragment Two“, auf „Inside The Rose“ war es „Where The Trees Are On Fire“).
Zum anderen ist sie eines von drei Stücken, auf dem Caroline Polachek zum Einsatz kommt. Während sie in „Industrial Love Song“ einen sehr melodiösen weiblichen Kran gibt, versteigt sich ihre riesige Stimme im unheilvollen, komplexen, von heftigen Drums befeuerten, sakral interpunktierten „A Season in Hell“ wortlos in kosmische Höhen (ungefähr wie Ian Gillan in „Child In Time“).
Weniger spektakulär lässt Polachek noch einmal in „Wild Fields“ von sich hören, mit dem ein Hauch von Industrial das Klangbild durchweht.

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Ein weiterer Höhepunkt ist das siebenminütige „Bells“, das in seiner perkussiven Grundierung mit dominantem Vibraphon, Glockenspiel und Kirchenglocken Jacks bekannte Affinität für den Minimal-Music-Komponisten Steve Reich herausstreicht. Stimmlich entwickelt Barnett mit fast murmelndem, scheinbar latent abschweifendem Vortrag eine bemerkenswerte Nähe zu The National-Sänger Matt Berninger (von dem übrigens gerade eine neue Solo-LP herausgekommen ist).

Der Titelsong „Crooked Wing“ kommt wiederum in Form einer vertrackten, irgendwie ziemlich feierlichen Suite, während „Goodnight“ an vorletzter Stelle (vor der erwähnten Reprise mit Chorknabenstimme) mit sehr schöner Trompete schon wie die Vorbereitung zum Abschied anmutet.

Selten hat der Ausdruck „überwältigend“ besser gepasst als für diese Platte. Und zwar sowohl in wörtlicher wie auch in sprichwörtlicher Hinsicht: Es ist etwas temporär Betäubendes in dieser (Über)Fülle. Aber dieser Betäubung wohnt nichts Abschreckendes inne. Nach kurzer Regeneration geht es umso freudiger auf ein Neues.

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Live in unmittelbarer Nachbarschaft am 26. 10. in Bratislava im Majestic Music Club.

*Es wird hier sorgsam der Begriff „Classic-Rock“ vermieden, weil dieser herkömmlichen Rock alter Schule bezeichnet und nichts mit klassischer Musik zu tun hat.

 

These new Puritans: Crooked Wing (Domino Records)

Von Post-Punk zu Neo-Klassik: Auf ihrem noch gar nicht so besonders langen Weg haben These New Puritans bereits viele Höhenmeter gemacht.