Die Gelassenheit der inneren Leere
Österreichische Halbjahres-Auslese/1. Herausragend: Das Schottische Prinzip. Verlässlich wie immer: Der Nino aus Wien. Bemerkenswert: Instrumental-Produktionen von Buenoventura, Styronauten und Sea Cathedral.

Julia Reißner verkörpert Das Schottische Prinzip (©Sabine Reißner)
Gar nicht so wenige österreichische Produktionen aus dem letzten halben Jahr kommen ohne Worte aus. Da hat man schnell das Etikett „Krautrock“ zur Hand, weil viel von der deutschen Rockmusik der späten 60er und frühen bis mittleren 70er instrumental oder zumindest von langen Instrumentalflächen geprägt war.
Der Verweis ist insofern verführerisch und solchermaßen auch besonders bequem, als ja viele neuere Instrumentalmusik sich tatsächlich in irgendeiner Form auf Krautrock bezieht: Post-Rock, experimenteller Rock, Drone, und natürlich alle möglichen Spielarten von Ambient.
Ohne Worte
Bei Buenoventura etwa darf man sich gelegentlich durchaus etwas an Neu! erinnert fühlen. Was allerdings einen gewissen Sonderfall in der Geschichte des Krautrock bezeichnet, denn einerseits war deren Musik klar von der Gitarre Michael Rothers dominiert, andererseits eignete der seriellen Rhythmik eine stark maschinelle, sprich elektronische Anmutung.

Das lauschige Cover (siehe linker Bildrand) des Albums „Gelb“ von Buenoventura (Palazzo Recordings)
Ein derartiger Antagonismus beherrscht auch Buenoventuras im Mai erschienenes Debüt-Album „Gelb“ (Palazzo Recordings). Auch hier ist die Gitarre das dominierende Instrument. Die Ausstrahlung der Musik mit ihren repetitiv-reduzierten Strukturen geht aber Richtung elektronischer Formen wie Techno, Rave, Electric Body Music etc.
Die Gitarre agiert hier nämlich nicht „klassisch“ in solistischer Funktion, sondern vielmehr als Sound-Architekt, als Generator von Klängen/Klangbildern, Effekten, Stimmungen und Dynamiken gleichermaßen.

Buenoventura ist das Solo-Projekt von Bernhard Hammer, szenebekannt als Gitarrist von Elektro Guzzi (© Astrid Knie)
Buenoventura ist ein (Ein-Mann-)Solo-Projekt von Bernhard Hammer, dem Gitarristen der Wiener Elektronik-Band Elektro Guzzi. Zwei Songs sind aus seinem bestechenden Album ausgekoppelt worden: das relativ ruhig fließende „Saft“, das indes mittendrinnen von einem Break eingebremst wird wie der Straßenverkehr durch eine Baustelle, und der aufgekratzte LP-Opener „Schwimmweste“.
Gewissermaßen das Kontrastprogramm zu Buenoventura bieten Styronauten aus Graz: Sie orientieren sich eher am Jazz-Rock und lassen es dabei auch an Belegen für ihre musikalische Virtuosität nicht fehlen.
Auch die Styronauten haben im Frühjahr ein Album („Norm“, No-Hit Wonder) veröffentlicht und nach „Organic“ einen weiteren Track daraus als Single exponiert: „Zirkusfreak“ ist ein kompakt-energetisches, von Orgel und präziser Gitarre getriebenes und von einer kompakten Rhythmus-Sektion zusammengehaltenes Up-Tempo-Stück mit schnittigen Kontrasten.
Recht schön, was der in Wien lebende Vorarlberger Laurin Bösch unter dem Moniker Sea Cathedral mit „Glistening Radio Towers Pt 2“ in die Welt gesetzt hat: Ein sonores Gitarren-Motiv wird von einem insistenten Break in Drone-Getöse von orchestraler Wucht und Dramatik überführt.
Klassisches Liedgut gibt´s auch noch
Klassische Liedermacherei mit traditionell verbaler Sinnvermittlung ist im letzten Halbjahr natürlich auch nicht wenig gemacht worden. Und einer der Meister dieser Disziplin, Der Nino aus Wien, wird mit einer neuen EP vorstellig.
„Wilde Zeit“ (Medienmanufaktur) – live präsentiert übrigens am 7. September in einem Open-Air-Konzert in der Arena Wien – verfolgt im Großen und Ganzen den Weg weiter, den Nino Mandl mit seiner formidablen Begleit-Band nun schon seit geraumer Zeit einschlägt: beschwingter, farbenfroher Folk-Rock mit deutlichem Psychedelic-Einschlag.
Die Sucht is a Hund: Der Nino aus Wien mit der Menschheits-Geisel Nr. 1, dem Smartphone
Wie der EP-Titel erahnen lässt, ist die Vierte Dimension das Thema der Platte: „Jetzt wirkt das wieder alt was grad´ noch neu war“.
Diese Geschichte, so trivial sie anmuten mag, funktioniert immer wieder, weil sie jeder Mensch etwas anders, aber auf jeden Fall dramatisch und gravierend erlebt: Wie man älter wird, wie man sich gegen die Außenwelt verhält, wie man sich dem unerfreulichen Unvermeidlichen (Altern, Tod) entgegenstellt.

Der Nino aus Wien, in seiner Verlängerung der Donauturm, links von ihm seine Begleiter pauT, David Wukitsevits und Raphael Sas (© Ingo Pertramer)
Und um zum ungefähr 947. Mal – man muss sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen – den Ruf des Nino aus Wien als einem der hiesigen Parade-Dialektsänger zu relativieren: „Die Sucht (is a Hund)“ ist als einziger der vier Songs in Mundart gehalten; der maßgebliche Rest ist – durchaus in repräsentativem Verhältnis zu Mandls Gesamtwerk – in Hochwienerisch.
Die Süchte, die hier verhandelt werden, kennen wir alle in unterschiedlichster Ausprägung als ehemalige oder (noch) aktive Betroffene: Nikotin, Alkohol, Marschierpulver, Süßigkeiten – alle in den Schatten gestellt vom größten globalen Sklavenhalter, dem Smartphone.
Jedenfalls repräsentiert der Faktor Sucht, der ja dazu führt, dass Zeit anders erlebt und verwaltet wird, womöglich das Thema der EP nachdrücklicher als alle anderen Szenarios: „Die Sucht is a Hund / sie schleicht si umadum / z´erst glaubst dass sie net kummt / dann schreit sie jede Stund“.

Das Schottische Prinzip (© Yuki Gaderer)
Ein Juwel aus dem Hause Bader Molden Recordings ist Julia Reißner mit ihrer Formation Das Schottische Prinzip. Zwei Songs machen große Lust auf das für Herbst annoncierte Album „Golden Voyager Record Vol. III“, das dem exzellenten LP-Debüt „Jolly“ von 2022* nachfolgen wird: „Sommer“ ist eine genervte, in Rockabilly-artigem Arrangement gehaltene Absage an Hyperaktivität und Überall-dabei-sein. Tollste Textzeile: „Du wirst mich nie erreichen – ich schalt mein Handy aus / Ich steig aus allen 20.000 WhatsApp-Gruppen aus.“
„Dear Investor“ ist keyboardbetonter und erinnert musikalisch entfernt an die B-52´s – Reißners ein wenig lebensheisere Stimme vermittelt wiederum weltmüden Sarkasmus und die Gelassenheit der inneren Leere.
Wieder frappiert der Text, der just mit seinen abenteuerlich blödsinnigen Umdrehungen von alten Slogans die Hohlheit von Selbstvermarktungs- und -optimierungsstrategien aufblattelt: „Kunst ist ohne Inhalt / Kommerz ist radikal“, heißt es da an einer Stelle, und an anderer: „Ich bin dein gutes Aussehen / Tut mir leid wenn ich vergeh“.
* Die zwei abschließenden Songs in der beigefügten Playlist sind aus diesem Album

Julia Reißner verkörpert Das Schottische Prinzip (©Sabine Reißner)