Erhabenheit aus der Baulücke
Zwei gelungene Debüts und ein Live-Album zeugen von der Lebendigkeit und Vielfalt der alternativen Musikszene in Österreich: Neues von Paloma 004, Coffee Time und Thalija.

Thalija: V (Pumpkin Records)
Liebhabern alternativer Musik und Freunden sympathischer Kleinlabels beschert das Jahr 2025 große Freude. Fast wöchentlich gibt es hörenswerte Neuveröffentlichungen zu entdecken, und man kann mit Fug und Recht von einer erfrischenden Aufbruchsstimmung sprechen. In den vergangenen Wochen haben die heimischen Labels Fettkakao und Pumpkin Records mit zwei Debütalben und einem Live-Album von gut gealterten Indie-Helden aufhorchen lassen.

Erfrischender Indiepop-Neuzugang aus Wien: Paloma 004 (c) Pat Blashill
Paloma 004 nennt sich ein Wiener Quartett rund um Frontfrau Lisa Obereder (der Bandname bezieht sich auf eine Schweizer Agentenfilm-Parodie), das mit seiner erfrischend-zupackenden und spielfreudigen Mischung aus Indierock, New Wave und Grunge zwar kein musikalisches Neuland betritt, seiner Musik mit juveniler Energie, widerständiger Unbekümmertheit und der „Scheiß-mich-nichts-Haltung“ des Punk aber frische Relevanz verleiht.
Feministisches Empowerment
Das bei Fettkakao erschienene Debütalbum „Alles fängt neu an“ überzeugt mit zehn Songs, die die Freude am mitreißenden Indierock mit dem richtigen Gespür für Melodien verknüpfen und auf den größtmöglichen gemeinsamen Nenner bringen. Bass, Schlagzeug und Gitarren sorgen für einen treibenden Sound, und Frontfrau Lisa Obereder – die auch für alle Texte verantwortlich zeichnet – verleiht dem Ganzen mit ihrem Gesang mehr als einen Hauch von feministischem Empowerment.
Schon lange hat niemand mehr so unverstellt und authentisch, so verzweifelt und doch kraftvoll über die Unmöglichkeit gesungen, Frieden und Glück in der (falschen) realen Welt zu finden.
Die bis auf zwei Ausnahmen durchgehend in deutscher Sprache verfassten Lyrics sind kluge Generation-Z-Befunde, die zwischen Resignation und Resilienz changieren: „Wenn wir uns weiter bemühn / Ein gutes Leben zu führn / Können wir uns glücklich fühln / Auch wenn alle Blumen verblühn“ („Heiteres“). „Alles fängt neu an“ trifft den Nerv der Zeit und hat mit „Malheur“, „Lektrizität“, „Sterne“, „Speer“ und dem Titelsong eine Handvoll kleiner Indie-Hits zu bieten. Es bleibt zu hoffen, dass die Band keine Fußnote in der österreichischen Pop/Rockgeschichte verbleibt, sondern dort auf Dauer Fuß fasst.
Leise Widerständigkeit
Auch dem Innsbrucker Brüderpaar Nicolas und Jan Josef Kendlinger, das unter dem Bandnamen Coffee Time auf dem steirischen Label Pumpkin Records sein Debütalbum veröffentlicht, wünscht man ein langes und erfolgreiches Bandleben. „Wild Birds“ überzeugt als fast klassisches Folkrock-Album mit zehn wunderbar-unaufgeregten Songs voller Wärme und Trost, Melancholie und Anmut, Erhabenheit und stillem Glück. Fragile Balladen von berückender Schönheit stehen neben Songs, die verträumten Liebeserklärungen an die Folkmusik vergangener Jahrzehnte gleichen. Alles ist betont einfach gehalten und dafür umso sorgfältiger instrumentiert und arrangiert.
Das Album wurde von Taylor-James Carroll (Big Thief) kunstvoll nachbearbeitet und gemischt. Und man kann gar nicht hoch genug greifen, um Vorbilder und Referenzgrößen für diese Art von Liedern zu finden: Tim Hardin, Nick Drake, James Taylor, Tim Buckley, Gordon Lightfoot, Elliott Smith. Alle diese Namen können freilich nur Annäherungen sein an eine Musik, die ihre Poesie und Schönheit aus dem Wunsch zieht, die Aufgeregtheit und den Alarmismus der Welt hinter sich zu lassen und ihnen mit souveräner Nonchalance und leiser Widerständigkeit zu begegnen.

Coffee Time: Wild Birds (Pumpkin Records)
Das stimmige Arrangement aus Akustikgitarren, Piano, Streicherklängen und den rauchig-sonoren Stimmen der Brüder Jan Josef und Nicolas Kendlinger ergibt die spezielle Coffee-Time-Alchemie, wie sie kein Allerwelts-Pop zustande bringt. Aus dem makellosen Debütalbum ragen die Songs „Bittersweet“, „Passing By“ und „Everyone Has Got Their Favourite Song“ noch hervor.
Kollektive Intensität
Sieben Gitarren, zwei Bässe, zwei Schlagzeuge, ein Synthesizer, zwei Stimmen und ein Laptop – das Line-Up der Wiener Band Thalija zielt in Richtung Kollektiv und Breitwand-Sound. Das ebenfalls bei Pumpkin Records erschienene Album „V“ umfasst vier Tracks mit einer Spieldauer zwischen 6:45 und 10:38 Minuten und präsentiert eine gute halbe Stunde Live-Musik, aufgenommen bei einem Baulückenkonzert am 20. Juni 2022 auf dem Nordwestbahnhof-Gelände in Wien.
Die auf diesem Live-Album versammelten Tracks sind das Destillat aus mehr als einer Stunde Raum-Klang, und sie besitzen allesamt den Charme von kollektiver Intensität und freigeistiger Improvisation. Organisch werden Lärm, Rhythmus, Melodie und Improvisation zu einer unverwechselbaren Klangästhetik gebündelt – pochend, dröhnend, roh, erratisch, repetitiv, atmosphärisch. Dynamische Spannungsfelder und strukturierter Noise bilden die musikalische Basis für Melodien, die kunstvoll aus den Klangskulpturen herausgeschält werden. In den besten Momenten entwickelt sich auf diese Weise eine monolithische Erhabenheit.

Thalija: V (Pumpkin Records)
Sieben Gitarren, zwei Bässe, zwei Schlagzeuge, ein Synthesizer, zwei Stimmen und ein Laptop – das Line-Up der Wiener Band Thalija zielt in Richtung Kollektiv und Breitwand-Sound.



