Greatest Hits, die es erst werden müssen

Viel Energie verströmt das vielgelobte, ideenreiche US-Quintett Guerilla Toss einmal auf seinem neuen Longplayer „You´re Weird Now".

Von
18. September 2025

Guerilla Toss: You‘re Weird Now (Sub Pop)

Im Nachrichten-Journalismus hat es der Newsletter, den Zeitungen und Magazine an Interessenten verschicken, in den Status einer eigenständigen journalistischen Form geschafft. Soweit wird es der sogenannte Waschzettel – das Neuveröffentlichungen begleitendende Info-Material, das Journalisten bei der Arbeit helfen/leiten soll -, nie bringen. Aber bisweilen finden sich darin Perlen.

Ein solcher Waschzettel zu „You´re Weird Now“, dem neuen Album des US-Quintetts Guerilla Toss, zitiert deren Drummer Peter Negroponte: „Es ist das Guerilla Toss’ Greatest Hits(-Album), das bisher noch nicht existierte.“
Auf gewisse Weise ist das sogar ernst gemeint.

For privacy reasons YouTube needs your permission to be loaded. For more details, please see our Datenschutzerklärung.

Guerilla Toss sind keine Newcomer. You´re Weird Now“ ist bereits ihr sechstes Studioalbum, das zweite auf dem renommierten Label Sub Pop. Sieben EPs, eine Live-LP und drei Remis-Alben komplettieren ihren ansehnlichen Werkkatalog seit der Band-Gründung 2011.

Viel Lob & Ehr´

Bei uns mögen Guerilla Toss immer noch recht unbekannt sein, aber zuhause in den USA genießen sie eine beträchtliche Reputation. Das manifestiert sich u.a. in der Tatsache, dass „You´re Weird Now“ von Stephen Malkmus im Studio von Trey Anastasio in Vermont produziert worden ist.
Malkmus ist der ehemalige Kopf der legendären Post-Grunge-Indie-Rock-Band Pavement; Anastasio Leader der experimentellen Fusion-Formation Phish, die – bei uns allenfalls beiläufig bekannt – auf dem US-Markt eine ziemlich große Nummer ist.

Bei uns immer noch unbekannt, zuhause in den USA aber sehr angehen: Guerilla Toss (© Ebru Yildiz)

Schon 2016 hat der „Rolling Stone“ Guerilla Toss unter den „10 Great Modern Punk Bands“ gelistet. Im selben Jahr hat sie Henry Rollins, die große, multidisziplinäre Integrationsfigur des amerikanischen Hardcore, komplimentiert: „Verdammt, was für eine Band! Eine der ersten großen Bands des neuen Jahrhunderts.“

Vielfältig(st)e Einflüsse

Im Lauf der Jahre haben Guerilla Toss, die aus Boston stammen und heute in New York ansässig sind, zahlreiche Wandlungen durchgemacht. Punk war immer ein Eckpfeiler ihrer Musik – das eigentlich Spannende war indes, wenn und wie dieser mit anderen, bisweilen sogar kontrastierenden Einflüssen und Stilen (etwa Art- und Prog-Rock) kollidierte.

Anfangs, als Guerilla Toss als Instrumental-Ensemble agierten, floß viel Noise und und bisweilen sogar Free-Jazz ins Klangbild ein. Mit dem Einstieg der Sängerin und Texterin Kassie Carlson 2012 wurde die Musik naturgemäß songbetonter, ohne aber Wesentliches von ihrem kühnen Impetus zu verlieren.

For privacy reasons YouTube needs your permission to be loaded. For more details, please see our Datenschutzerklärung.

Sukzessive hat die Band Einflüsse aus Disco und Funk aufgenommen, auch Elemente von Krautrock und jener augenscheinlich nie alternden, rhythmisch akzentuierten Spielart von New Wave, für die die Talking Heads, auch die B-52s und als ihrer aller großer Ahnherr Arthur Russell stehen.

Dabei haben sich Guerilla Toss mit ihrer Urgewalt, Dynamik, insbesondere aber Carlsons überschwänglichem, tatsächlich fast im Wortsinn frisch-fröhlichem Gesang bis heute den Appeal jugendlichen Ungestüms bewahrt. Kein Gramm Fett bremst oder dämpft diese Musik, jede Zelle ist befeuert von Energie.

Mit dem Einstieg von Sängerin Kassie Carlson wurde die Musik songbetonter, verlor aber nichts von ihrer Kühnheit (© Ebru Yildiz)

Etwas anders sieht es mit den Texten aus, die als Spiegel der Gegenwart zwangsläufig Ungemach reflektieren, und das nicht zu knapp: Suchtververhalten, psychische und mentale Probleme, wenig wünschenswerte gesellschaftliche Entwicklungen wie religiöser Fanatismus sind einige der Nettigkeiten, die darin verhandelt werden.

Selbst-Ermutigung

„You´re Weird Now“ ist demgegenüber bemerkenswert gut gelaunt, optimistisch und lässt Tatendrang spüren.
Allein der Titel ist ein Appell zur Selbst-Ermutigung: In den Augen der Allgemeinheit mag man als sonderbar gelten – das sollte man als Ausweis seiner Individualität begreifen und forcieren.
Und gleich der erste Song fordert mit unbändiger Lebenslust Spaß ein: „I´m so sorry / I came to party“.
Psychosis Is Just A Number“ versichert der anschließende Titel.

For privacy reasons YouTube needs your permission to be loaded. For more details, please see our Datenschutzerklärung.

Gleichwohl werden Lebenslust und Optimismus nicht als Alibi für Gedankenlosigkeit missverstanden, wie das giftige „Panglossian Mannequin“ klarmacht (Panglossianismus ist, vereinfacht dargestellt, der Glaube, die Welt verbessere sich quasi aus einem Automatismus heraus).

Tier-Metaphern

Ein launiger Aspekt dieser Inhalte ist, dass ziemlich oft Tiermetaphern mit so verrückten Titeln wie „Crocodile Cloud“ oder „Red Flag To Angry Bull“ (ein Stimm-Duett Carlsons und Malkmus‘ mit Psycho-Gitarre von Anastasio) verwendet werden. Diese Songs könn(t)en im weitesten Sinn als Auseinandersetzungen des Individuums mit globaler Wirrsal begriffen werden.
Auf buchstäblich fabelhafte Weise geschieht das in „When Dogs Bark“: „I’ve begged for a meal / I’ve chased my own tail / I’ve slept on the floor / I’ve clawed at the door“.
Dass ein Song „Life´s A Zoo“ heißt, mutet in diesem Ambiente von animalischen Gleichnissen wie ein Resümee an.

For privacy reasons YouTube needs your permission to be loaded. For more details, please see our Datenschutzerklärung.

Musikalisch mussten sich Gurilla Toss für dieses Album nicht – wie das (bisweilen krampfhafte) Suchen nach neuen Ausdrucks- und Stilmitteln gerne platitüdenhaft umschrieben wird – „neu erfinden“. Gehören doch Vielseitigkeit und Überraschungsmomente sowieso zu ihrer Grundausstattung.

Eher stellt „You´re Weird Now“ – siehe „Greatest Hits“ – eine Zuspitzung und Konzentration ihrer nuancenreichen Musiksprache dar: Ihrer grundsätzlich speedigen, von einzelnen langsameren Songs oder Passagen so gut wie unbeeinträchtigten Anmutung. Den unvermittelten Breaks, den abrupten Stilwechseln innerhalb ein und des selben Songs. Carlsons aufgekratztem Gesang, der locker zwischen Rap und schriller Rock-Sirene umherspringt. Den wunderbar verrückten Synthies. Den flirrenden Gitarrenläufen. Den wild knüppelnden Drums.
Und notabene: Sich als „CEO Of Personal & Pleasure“ aufzuspielen, wie das ein Songtitel tut, muss einem auch erst einmal einfallen.

For privacy reasons YouTube needs your permission to be loaded. For more details, please see our Datenschutzerklärung.

 

 

 

 

Guerilla Toss: You‘re Weird Now (Sub Pop)

Kein Gramm Fett bremst oder dämpft diese Musik, jede Zelle ist befeuert von Energie.