Kollektiver Begleitchor der „happy few“

Nach sieben Jahren Live-Pause sind Radiohead zurück auf Europa-Tour. In Berlin boten sie einen atmosphärisch dichten und minutiös getakteten Rückblick auf ihr Werk.

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10. Dezember 2025

Überlebensgroß: Radiohead-Sänger Thom Yorke auf den Screens über der Live-Bühne in Berlin. (c) Christa Hager

Es gibt zwei Arten von Radiohead-Fans: die Enttäuschten und die Glücklichen. Erstere haben der Band entweder schon lange den Rücken gekehrt, weil sie mit ihrem Stadion-Rock-Status nichts anfangen können und ihn als Widerspruch zu den Songs sehen. Oder sie sind darüber enttäuscht, dass es mittlerweile einem Glücksspiel gleicht, Radiohead live erleben zu können. Übrig bleibt eine vergleichsweise kleine Gruppe an Zufriedenen: „We few, we happy few, we band of brothers“, wie es bei Shakespeare heißt. Und happy war sie allemal, die Schar, die an diesem verregneten Montagnachmittag zur Berliner Uber-Arena nahe der East Side Gallery strömte.

Ticket-Lotterie & Online-Sisyphus

Als Radiohead aus Oxford Anfang September ihre erste Europa-Tournee seit sieben Jahren angekündigt hatten, waren alle 20 Shows binnen weniger Stunden ausverkauft. Um Ticket-Scalping und überteuerte Resales zu verhindern, und dem Sog der Marktlogik von Angebot und Nachfrage im Event-Business zu entkommen – einem Phänomen, welches sich vor allem im Dynamic Pricing oder in Listening-Only-Konzerttickets niederschlägt – , wollten Radiohead als Tourneeveranstalter einen neuen Weg beschreiten.

Doch was als Dienst für die Fans bezeichnet wurde, entpuppte sich als Lotterie samt Vorausscheidung mittels Freischaltcode: Denn hatte man es einmal in die engere Vorauswahl geschafft, folgte im Kaufprozess nach der digitalen Blockabfertigung für viele ein Online-Sisyphus in Form eines gefüllten Warenkorbes, in dem man dann aber nichts kaufen konnte und in Rauswürfen endete. Hatte man Glück, konnte man zumindest zurück an den Start und das Spiel von vorne beginnen.

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Die Tournee, die in Madrid begann und über Bologna, London und Kopenhagen nach Berlin führte, präsentiert eine umfassende Werkschau aus allen Jahrzehnten. 70 Songs haben Radiohead für die Tour geprobt, 25 standen am ersten Konzertabend in Berlin auf dem Programm – mit Schwerpunkt auf „OK Computer“ (darunter „No Surprises“, „Paranoid Android“ und „Karma Police“) und „In Rainbows“ mit sechs Liedern (darunter Jigsaw Falling Into Place“, siehe Video).

Für viele Fans wurden vor allem die Rückgriffe auf „The Bends“, dem zweiten, vor dreißig Jahren erschienenen Album, zum Höhepunkt des Abends: „Planet Telex“ (als Opener), „Fake Plastic Trees“ und „Just“ fanden nach Jahren wieder ihren Weg auf die Setlist. Zwischendurch kam auch Radioheads elektronisches Werk zum Zug: „15 Step“, „The Gloaming“ und „Kid A“ wurden zum ekstatischen Hattrick, mit einem zuckend tanzenden Thom Yorke – für Konzertbesucher in den Oberrängen dank LED-Visuals überlebensgroß statt im Zwergenformat zu sehen.

Viel Bewegung & zwei Drummer

(c) Hager

Wie schon in den vorangegangenen Konzerten spielten Radiohead auch in Berlin auf einer Rundbühne mitten in der Arena, anfangs eingezäunt und verdeckt von einem dunklen, zylindrischen Metallvorhang mit Screenpanels, der sich allmählich lüftete, um danach über der Bühne schwebend sowohl kunstvoll inszenierte Live-Bilder als auch elaborierte Visuals zu übertragen.

Das Bühnenformat sorgte darüber hinaus für viel Bewegung: Yorke, Ed O’Brien und Bassist Colin Greenwood wechselten immer wieder ihre Positionen, Jonny Greenwood changierte zwischen Gitarre, Klavier, Glockenspiel und analogen Synthesizern. Das solide rhythmische Fundament von Colin Greenwood und Phil Selway wird auf dieser Tour übrigens erstmals durch den US-Schlagzeuger Chris Vatalaro als zusätzlichen Live-Drummer ergänzt, der Portishead-Schlagzeuger Clive Deamer ablöste.

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Der Sound in der charakterlosen Veranstaltungshalle war bei den bedächtigeren Songs gut und perfekt gemischt (wie etwa bei Sit Down, Stand Up“  von Hail To The Thief“, siehe Video), wodurch Akustikgitarre, Gesang und selbst feinste Percussion-Schläge klar zu hören waren. Dagegen hatten viele von Jonny Greenwood’s typischen Gitarrenmelodien Mühe, sich durchzusetzen, und wurden oft von Ed O’Briens Gitarre überwölbt. Thom Yorke war nach kürzlich überstandener Erkrankung stimmlich noch nicht ganz auf der Höhe, sein Falsettgesang klang brüchiger und weniger klar, trotzdem kräftig und ausdauernd. Und mit der Zeit schwappte die Energie von der Bühne auch auf das internationale, großteils sehr junge Publikum über, das sich nach gut einer Stunde in einen kollektiven Begleitchor verwandelte.

Zeugen des Geschehens: 17.000 Radiohead-Fans, die bei der Ticket-„Lotterie“ gewonnen hatten. (c) Hager

Was um exakt 20.30 Uhr mit einem knappen „Good Evening“ von Sänger Thom Yorke begonnen hatte, war rund zwei Stunden später auch schon wieder vorbei – und die 17.000 Konzertbesucher zogen freudestrahlend und zufrieden zurück hinaus in den Regen.

Siehe/höre auch die offizielle Internet-Seite von Radiohead.

Überlebensgroß: Radiohead-Sänger Thom Yorke auf den Screens über der Live-Bühne in Berlin. (c) Christa Hager

Als Radiohead aus Oxford Anfang September ihre erste Europa-Tournee seit sieben Jahren angekündigt hatten, waren alle 20 Shows binnen weniger Stunden ausverkauft.