Weihnachten mit Flügel
Wie es dazu kam, dass „Wings At The Speed Of Sound“ zu meiner Fest-Platte wurde – und Paul McCartney zum singenden Weihnachtsmann. Eine akustische Bescherung.

Ein Album voller Liebeserklärungen: Paul und Linda McCartney, 1976. (c) Jim Summaria, gemeinfrei
Nein, kein „Last Christmas“ (Wham), auch kein „Driving Home For Christmas“ (Chris Rea), und schon gar nicht „All I Want for Christmas Is You“ (Mariah Carey): Keinen dieser welt- und wohl auch österreichweit meistgestreamten und -gehörten Weihnachtssongs spiele bzw. höre ich an besagtem Tage (in der Zeit davor entkommt man ihnen freilich nur schwer). Und auch sonst keinen, der auf diesen Tag (und Anlass) speziell Bezug nimmt.
Meine X-mas-Songs heißen „Let ’Em In“, „Silly Love Songs“, „Beware My Love“ – und es gibt noch einige mehr, die allesamt von dem Album „Wings At The Speed Of Sound“ stammen, in dessen Titel der geflügelte Bandname bereits enthalten ist. Jener Name, der fehlt, und der doch der wichtigste in diesem Gefüge ist, ist natürlich jener von Paul McCartney. Bekanntlich waren die Wings ab 1971 die zweite erfolgreiche Band des Ex-Beatles, die – in unterschiedlichen Besetzungen – bis 1981 existierte.
Hieß die Gruppe die ersten Jahre (und drei Alben lang) Paul McCartney & Wings, war es bei der vierten Platte, „Venus And Mars“ (1975) das erste Mal, das auf den Zusatz „Paul McCartney &“ verzichtet wurde. So auch 1976 bei der Veröffentlichung von „Wings At The Speed Of Sound“, um welches Album es im Folgenden („WATSOF“ abgekürzt) ausschließlich gehen soll. Denn es ist mein Weihnachtsalbum: Jahr für Jahr höre ich es am 24. Dezember. Aber nur dann.
Und das kam so: Ich hatte die elf Songs des Originalalbums kurz nach Erscheinen auf eine Musikcassette überspielt (auf deren Band sich am Ende noch eine kurze Sequenz des unvergessenen Ö3-„Musicbox“-Moderators Alfred Hütter befand), die ich dann öfters im Dezember anhörte. Und da dieser zeitliche Bezug sich im Laufe der Jahre immer mehr verfestigte, und der Dezember – ob man will oder nicht – auf einen speziellen Tag dramatisch zusteuert (und das ist nicht zwangsläufig der letzte!), war es nur eine Frage der Zeit, sprich: von wenigen Jahren, bis ich bei der akustischen Synchronisierung von 24. Dezember und „WATSOF“ angelangt war. Und dabei blieb es dann auch – trotz Wechsels der Tonträger (von Cassette zu CD zu Stream) – bis heute. Am (ersten) Weihnachtstag werden die elf Songs der Wings gehört. (Ab dem zweiten noch ein paar weitere der Band – und einige anderer Interpreten …).

Im Original 1976 bei Capitol erschienen.
Da ich zur damaligen Zeit, also in den späten Siebzigerjahren, im Wiener Arsenal wohnte, ist diese Gegend im dritten Bezirk für mich mit den Klängen dieses Albums ebenfalls eng assoziiert. Und es gehört zu meinen absonderlichen Gewohnheiten (wofür sich im Wienerischen der treffende Ausdruck „Schuss“ eingebürgert hat), dass ich – wann immer es möglich ist – „WATSOF“ am 24. Dezember bei einem Spaziergang in den schönen Parkanlagen des Arsenal höre.
Songs aus der Teenagerzeit
Im „Standard“ war heuer von einer (finnischen) Studie zu lesen, die erforschte, warum man die Songs aus der Teenagerzeit nicht mehr so leicht aus dem Kopf bekommt, und wie nachhaltig sich Zeiten, Gefühle und Orte zu einem Erinnerungs-Cluster verbinden, dem man dann ein Leben lang buchstäblich nachhängt.
Interessanterweise gibt es dabei Geschlechtsunterschiede: „Männer, so die Ergebnisse, hören ihre wichtigsten Teenager-Songs im Schnitt im Alter von etwa 16 Jahren. Frauen dagegen erinnern sich besonders inensiv an Musik, die sie rund drei Jahre später, mit 19, im Ohr hatten.“ Und weiter: „Bei Männern bleiben die musikalischen Erinnerungen über das ganze Leben hinweg erstaunlich stabil. Selbst Männer in ihren Sechzigern berichten von einer besonders starken emotionalen Bindung an die Musik ihrer Teenagerjahre.“
Das trifft bei mir alles ziemlich genau zu. Ich war 15 Jahre alt, als ich „WATSOF“ erstmals hörte, und ich höre die Platte nunmehr, in meinen Sechzigern, noch immer mit hoher emotionaler Bindung an frühe Tage, ja speziell an einen Tag …
Paul McCartney ist damit zu meinem persönlichen Weihnachtsmann geworden – und das passt ja, wie ich finde, gar nicht so schlecht (zu mir, aber auch zu ihm). Obwohl es natürlich reiner Zufall war, dass dieses Album sich zu meinem W-Favoriten entwickelte (was man zu Zeiten von Musikcassetten fast wörtlich nehmen konnte), so finden sich in dessen Umfeld und Geschichte doch auch Umstände & Hinweise, die eine strukturelle Nähe von Ereignis (Weihnachten) und Platte („WATSOF“) herstellen (lassen).
So hat etwa die Familie McCartney ihren Weihnachtsurlaub 1975 auf Hawai verbracht, wo Paul die meisten Songs für das Album schrieb, die dann ab Jänner (innerhalb von sechs Wochen) in den Londoner Abbey Road Studios eingespielt wurden. (Die Aufnahmen, die bereits im September begonnen hatten – u.a. mit dem Song „The Note You Never Wrote“ –, fanden während der Wings-Welttour 1975/76 statt).
„Was Kleines für den Weihnachtsstrumpf“

Quasi eine Autobiografie in (161) Songs (c) C.H. Beck
In dem schönen, heuer auf Deutsch erschienenen Band „Lyrics“, in dem Paul McCartney seine Lebensgeschichte anhand von 161 Songs (aus sieben Jahrzehnten) erzählt, beginnt er die Ausführungen zu „Let ’Em In“, dem Eröffnungssong von „WATSOF“, mit den Worten: „Was Kleines für den Weihnachtsstrumpf. So betrachte ich manche Songs. Das ist ein lustiges kleines Ding, keine großes Weihnachtsgeschenk.“ Aber eben doch eines – und als solches betrachtet er diesen feinen kleinen Song, der mit dem Ton einer Türklingel beginnt, die prompt aus seiner eigenen Wohnung in London stammt.
Noch mehr als an Weihnachten dachte Paul, als er den Song schrieb, indes an eine Silvesterparty im Haus seiner Tante (Jane) und seines Cousins (Ian), zu der all die illustren Gäste erscheinen sollten, die in dem Song namentlich angeführt werden, und die – nicht zuletzt mit seiner Hilfe (in besagtem Buchkapitel) – leicht zu entschlüsseln sind, wie etwa „Sister Suzy“ (Linda, die in Jamaika so genannt wurde!), „Brother John“ (John Lennon), „Phil and Don“ (die Everly Brothers) oder „Uncle Ernie“ (eine Figur aus dem Who-Song „Fiddle About“). Auch „Martin Luther“ kommt vor – und damit sind wir schon wieder näher dran am christlichen Fest (als an Silvester). Wie überhaupt die Willkommens-Kultur, die dieser fröhlich-offenherzige Song der offenen Türen ausdrückt & vermittelt, gut zu jeglicher Botschaft von Nächstenliebe passt, nicht nur am 24. Dezember.
Nicht nur „Silly Love Songs“
An Liebesbeschwörungen und -beweisen fehlt es dem Album, das sich bei Kritikern keiner allzu großen Beliebtheit erfreute (dafür aber – mit 3,5 Millionen verkauften Exemplaren – beim Publikum), generell nicht, wie etwa „She’s My Baby“, „Beware My Love“ oder „Warm And Beautiful“ belegen, allesamt Liebeserklärungen Pauls an Linda Eastman/McCartney (die bekanntlich 1998, im Alter von 52 Jahren, einer Brustkrebserkrankung erlag).
Und natürlich „Silly Love Songs“, der absolute Hit der Platte (der 1976 sowohl in England als auch in den USA die Chartsspitze eroberte). Darin kontert McCartney den Vorwürfen, dass er allzu gerne alberne Liebeslieder schreibe: „,Some people want to fill the world / with silly love songs’. Ich hatte diesen Ruf weg und musste dafür einstehen. Anstatt keine Songs mehr über die Liebe zu schreiben, wollte ich weitermachen, mich richtig reinwerfen, ohne dass es mir peinlich war.“ Das erzählt & gesteht er dem englischen Dichter Paul Muldoon, der das „Lyrics“-Buch herausgegeben hat (das bei C.H. Beck erschienen ist und von Conny Lösch übersetzt wurde).

Familiäres Bandgefüge: Paul McCartney mit Jimmy McCulloch, Wings 1976. (c) Jim Summaria, gemeinfrei
Der Spott ist McCartney freilich erhalten geblieben (teils bis in die Gegenwart). Der „Rolling Stone“ hat „WATSOF“ seinerzeit als „a ,Day with the McCartneys’ concept album“ bezeichnet, was ein bisschen böse, aber auch nicht ganz falsch ist. Ein Song, den Linda McCartney beisteuert & anstimmt, „Cook Of The House“, ist ein etwas gar privatimer – und nicht ganz unpeinlicher – Einblick in die Familienküche. Das – für die Pop-Geschichtsschreibung interessanteste – Detail daraus ist das akustisch dokumentierte brutzelnde Öl zu Beginn, was Paul rückblickend noch stolz macht, wenn er meint, dass „wohl nicht jeder eine Aufnahme von in der Pfanne brutzelndem Speck in Es-Dur an den Anfang gesetzt hätte“. Und noch ein weiteres, nicht so deutlich hörbares Detail von damals verrät Paul: „Außerdem spiele ich den Bass, der Bill Black gehört hat, dem Bassisten von Elvis Presley.“
Jeder durfte seine Stimme erheben

Denny Laine, Wings-Welttour 1976. (c) Jim Summaria, gemeinfrei
Obwohl Paul neun der elf Songs geschrieben hat, hat er sie nicht alle selbst gesungen – ja, „WATSOF“ ist überhaupt das einzige Wings-Album, auf dem alle Bandmitglieder ihre (Gesangs-)Stimmen erheben. Linda als singende Köchin haben wir schon erwähnt; daneben sind noch Gitarrist Jimmy McCulloch in dem von ihm verfassten „Wino Junko“ zu hören, Drummer Joe English interpretiert „Must Do Something About It“, und Bassist/Gitarrist Denny Laine durfte seinen Song „Time To Hide“ ebenfalls selbst gesanglich performen. So familiär und demokratisch – und man ist fast geneigt zu sagen, weihnachtlich – geht es in Bands ansonsten selten zu. Auch bei den Wings blieb es die Ausnahme.
Kürzlich – und damit machen wir einen großen Sprung in die Gegenwart – hat der mittlerweile 83-jährige Ausnahmemusiker einen neuen „Song“ der ganz speziellen Art veröffentlich: Zwei Minuten und 45 Sekunden lang ist – genau nichts zu hören. McCartney ist einer von vielen Künstlern, die auf dem sogenannten „stillen Album“ vor dem Ausverkauf der Musikbranche an künstliche Intelligenz warnen.
Dieses Album – und McCartneys Beitrag – wären mit ihrer lautlosen Botschaft für Weihnachten freilich auch eine Option. Aber da bleibe ich doch lieber beim schnellen (und gar nicht so lauten) Sound des Albums aus dem Jahr 1976. Das Arsenal wartet schon – auf Sir Paul und mich.

Ein Album voller Liebeserklärungen: Paul und Linda McCartney, 1976. (c) Jim Summaria, gemeinfrei
„,Some people want to fill the world / with silly love songs’: Ich hatte diesen Ruf weg und musste dafür einstehen. Anstatt keine Songs mehr über die Liebe zu schreiben, wollte ich weitermachen, (. . .) ohne dass es mir peinlich war.“ (Paul McCartney)



