Wink aus dem Jenseits
Vor ihrem frühen Tod 2021 hat die Elektronik-Produzentin und Musikerin SOPHIE mit vielen Gastvokalist/innen ein komplettes Album fertiggestellt, das nun kuratiert und veröffentlicht wurde.
Der „Musik Express“ hat dieser Platte die Höchstwertung – sechs Sterne – gegeben. Auch der „Guardian“ und der (amerikanische) „Rolling Stone“ haben es an Überschwang nicht mangeln lassen; ausgerechnet die angeblich doch avantgardenahen Formen popmusikalischen Schaffens zugeneigte Online-Bibel „Pitchfork“ zeigt gewisse Reserven. Gut, 6.8 von 10 möglichen Punkten ist natürlich auch deutlich überdurchschnittlich, aber instinktiv hätte man da schon eine Wertung von 8 aufwärts, womöglich mit dem Marker „Best New Music“, erwartet.
So oder so – SOPHIE erlebt nicht, was ihr eben veröffentlichter, unbetitelter dritter Longplayer an Reaktionen auslöst. Am 30. Jänner 2021 ist sie bei einem Unfall im Alter von 34 Jahren in Athen gestorben. Davor hatte sie noch ein ganzes Album fertiggestellt; ihr Bruder und langzeitiger musikalischer Partner Benny Long musste es nur noch kuratieren.
Die vielen Rätsel und Uneindeutigkeiten, die SOPHIE umgeben, beginnen mit ihrer Geburt und enden mit ihrem Tod. Als der Ort, in dem sie als Samuel Long auf die Welt kam, wird zumeist Glasgow angegeben. Die englischsprachige Wikipedia insistiert aber (mit einigermaßen schlüssigen Belegen) darauf, dass sie – damals noch er – im englischen Northampton das Licht der Welt erblickt hat. Die Online-Enzyklopädie widerspricht auch der meistkolportierten Version ihres Todes, derzufolge sie von einem Baum gestürzt sei. Wikipedia berichtet von einem Sturz von einer Dachterrasse und offensichtlich schweren Komplikationen bei ihrer Bergung und Überführung in ein Krankenhaus.
Sicher ist: SOPHIE, schon als Kind von der Rave-Bewegung angefixt, produzierte bereits sehr früh mit Keyboards und Computern elektronische Musik und profilierte sich als DJ.
Im Alter von 14 Jahren fertigte sie Remixe für Dance-Produktionen an. 2013 kreierte sie mit der Single „Bipp“ mit extrem hochgepitchten Vocals und insistenter Elektronik-Schleife ihren ersten Dancefloor-Hit. Zahlreiche Single-Produktionen folgten, wie „Bipp“ alle mit unterschiedlichen Gastvokalist/innen.
Wie bei etlichen Künstler/innen aus dem als experimentell gebrandeten elektronischen Bereich (siehe etwa James Blake) war es für SOPHIE kein langer Weg von erster Szene-Aufmerksamkeit in die Liga der Pop-Superstars. 2015 kam es zur Zusammenarbeit mit Electro-Pop-Ikone Charli XCX für die EP „Vroom Vroom“ und mehrere Singles. Im selben Jahr co-produzierte sie Madonnas Tanzbodenfeger „Bitch I’m Madonna“ (wofür sie keine Credits bekam, wohl aber unter ihrem Geburtsnamen Samuel Long als Co-Autorin).
2015 kam auch SOPHIEs erstes Album „Product“, eine Kompilation bis dahin erschienener Singles, auf den Markt.
Jahr der Offenbarung
2017 war schließlich das Jahr, in dem sie sich der Welt offenbarte.
SOPHIE, die vorher nur ungern auf Gender-Fragen eingegangen war, bekannte sich zu ihrer Transsexualität, und exponierte ihre Persona im Video zur sanft fließenden Elektro-Ballade „It’s Okay To Cry“, die zugleich auch ihr (überzeugendes) Debüt als Sängerin markiert.
2018 erschien ihre erste genuin als Album konzipierte LP „Oil of Every Pearl’s Un-Insides“, wurde ein Kritiker-Favorit sondergleichen und für einen Grammy als bestes Dance-/Electronic-Album nominiert.
Während sich die Künstlerin auf „Oil of Every Pearl’s Un-Insides“ mit Personalaufwand noch relativ zurückhält – die kanadische Electro-Pop-Musikerin Cecile Believe ist als Sängerin und Co-Autorin mehrerer Tracks ihre wichtigste Helferin – versammelt sich auf „SOPHIE“ fast ein Dutzend vokale Gastbeiträger/innen. Alle stammen sie aus der elektronischen, viele aus der transsexuellen Szene: Unter anderen das Duo BC Kingdom aus L.A., die ebendort ansässige, in Bonn geborene Sängerin Kim Petras – übrigens die erste bekennende Transgender-Künstlerin, die tatsächlich einen Grammy bekommen hat -, die russische Musikerin, DJ und Produzentin Nina Kraviz, die R&B-Sängerin, Rapperin und renommierte Songwriterin Jozzy, SOPHIEs letzte Lebensgefährtin Evita Manji, neuerlich Cecile Believe und eine ominöse, selbst mit Hilfe des annähernd allwissenden Internets nicht zu decodierende Figur mit dem Namen Popstar, die in „Elegance“ und „One More Time“ nichts anderes macht als mit verfremdeter Stimme die jeweils titelgebenden Worte zu skandieren.
„Willkommen auf Deutschland“
SOPHIEs Musik ist oft als Hyperpop bezeichnet worden. Das sagt allerdings auch nicht viel mehr als dass sich darin ungefähr alles tummelt, was seit House an elektronischen Musikstilen erfunden worden ist. Wesentlicher bleibt festzuhalten: Diese Musik macht kein Hehl aus ihrer Künstlichkeit und insbesondere nicht aus ihrem Warencharakter. SOPHIEs Arbeiten sind öfters als Soundtracks für Werbungen verwendet worden, mehr noch: SOPHIE hat auch eigens Werbe-Soundtracks für fiktive Produkte kreiert.
Auf der anderen Seite sind ihr aber auch gefühlstiefe – bisweilen genuin spirituelle – Elemente und harschere, eher nicht verkaufsfördernde Soundspitzen immanent. Auf „SOPHIE“ scheinen sich diese unterschiedlichen Facetten in Flüssen zu kanalisieren.
Tatsächlich scheint kaum eine Rezension – auch diese nicht – der Versuchung widerstehen zu können, bestimmte Strömungen aus dem Werk heraushören zu wollen. Eine ähnelt dem, was Brian Eno einst als Ambient Music bekannt gemacht hat – breite, sphärische Soundflächen mit wenig Bewegung und viel Raum für Introspektive. Der trotz seines Untertitels „The Full Horror“ sehr schöne Opener „Intro“, aber auch „The Dome’s Protection“, in dem Nina Kraviz einen teils existenzialistischen, teils esoterischen Text über menschliches Funktionieren spricht, gehen in diese Richtung. Ein anderer prominenter Teil ist technoid und „experimentell“ angelegt und klingt manchmal nicht sehr viel anders, als wenn Sie und ich mit der Musik-Software des Computers herumlavieren und versuchen, irgendeine Struktur hineinzubekommen.
Zwei Stücke, denen Evita Manji ihre Stimme leiht, verfolgen diese Spielart, „Gallop“ und „Berlin Nightmare“, worin es „Willkommen auf Deutschland“ heißt: wörtlich und nicht einfach als Sprachfehler interpretiert, wäre damit eine Inselsituation bezeichnet, was wiederum insofern bemerkenswert wäre, weil Berlin zur Zeit der Mauer gerne als Insel gesehen wurde.
Und dann gibt es noch eine Latte potentieller Hits, ob verspielt wie „Exhilarate“ mit der deutschen Sängerin und Songwriterin Bibi Bourelly, die u.a. einige Hits für Rihanna mitgeschrieben hat, in fast orthodoxem Synthi-Pop-Format wie in der Petras-BC Kingdom-Kooperation „Reason Why“, minimalistisch wie in „Rawwwwww“ mit Jozzy am Mikro oder verträumt wie in der von Cecile Believe gesungenen Sehnsuchts-Ballade „My Forever“.
Es ist keine schwierige Frage, welche dieser drei Strömungen die meisten Sympathiepunkte einfährt – ebenso steht aber außer Zweifel, dass die anderen zwei zum Gelingen des großen Ganzen unabdingbar dazugehören.
Unterschwellig scheint sich die Musik in Strömungen zu kanalisieren: Ambient, Techno und nicht wenige potentielle Hits