Alien auf einem dystopischen Planeten
Das Gefühl von Desorientierung nach langer Abwesenheit von ihrer Wahlheimat Los Angeles beschreibt die aus Virginia stammende Sängerin Lael Naele auf ihrem Album „Altogether Stranger“.

Lael Neale: Altogehter Stranger (Sub Pop)
Wenn an der Pop-Musik dieses Milleniums etwas gesichert konstatiert werden kann, ist das der Vormarsch der Frauen. Vielleicht ist sie überhaupt die einzige nennenswerte Front, die der weltweit zu beobachtenden Zurückdrängung und Marginalisierung der Frau einen einigermaßen robusten Widerstand entgegenzusetzen hat.
Die signifikantesten Repräsentantinnen dieses Phänomens sind nicht etwa überlebensgroße Glamour-Ikonen wie Charli XCX, Beyoncé oder Taylor Swift, denn ihresgleichen hat es von Diana Ross über Madonna bis Mariah Carey immer gegeben.
Wirklich frappant ist die exorbitant angewachsene Anzahl an ehrfurchtgebietend guten Sängerinnen, die ihre Musik (ohne ein Heer von Co-Writern) selbst schreiben, zu wesentlichen Teilen auch selbst einspielen und nicht zehn Produzenten und ganze Dutzendschaften von Marketing-Experten brauchen, um zu wissen, „wie sie sich am Markt positionieren sollen“ oder allsowas.
Diese etwas umständliche Darstellung einer Musik, die in groben Zügen auf dem DIY*-Ethos basiert, ist deshalb notwendig, weil Lael Neale, um die es in dieser Geschichte geht, den Terminus Singer/Songwriter, als Stil-Definition verstanden, ablehnt.
Sagen wir es also so: Lael Neale agiert als durch und durch individuelle Sängerin und gestalterische Kraft auf einem weiten Spielfeld, dessen Umrisse, Oberflächen wie auch Tiefen eine Sharon Van Etten, Angel Olsen, Meg Duffy, Cat Power, Cassandra Jenkins, Jessica Pratt, nicht zuletzt eine Shana Cleveland als Songschreiberin der Pop/Rock-Band La Luz und als ihrer aller Urahnin Joni Mitchell definiert haben.
„I saved a sky from feeling blue“
Was bei Lael Neale als erstes ins Auge sticht, sind ihre cleveren Wortspiele und Jongleursakte mit Alltagsphrasen: „I saved a sky from feeling blue“. Oder, phonetische Verwirrung stiftend: „I´ll be mourning tonight“. Im unheimlichen „In Verona“ (Romeo und Julia!) verquirlt Leale steinern-morbide Motive mit einer finalen Herausforderung physikalischer Gesetze: „Who´s gonna stop the sun setting“.
Mit ihrer verbalen Gewitztheit korrespondiert Neales helle, einnehmende Stimme, in der bisweilen Spurenelemente Ironie (gegen die Umwelt wie auch sich selbst) und Süffisanz mitzuschwingen scheinen.
Gleichwohl vermittelt Neale in einem Gespräch mit Robert Rotifer ** für die Sendung „Heartbeat“ auf FM4 das starke Bedürfnis, der Welt unmittelbar sagen zu können, was Sache ist (und danach zu handeln).
Das veranschaulicht sie, angeregt durch die Dokumentation „One To one: John & Yoko“, am Beispiel John Lennon: Trotz der Brutalität seiner Zeit, Katastrophen wie dem Vietnamkrieg, Problemen wie Rassendiskriminierung und Segregation habe dieser nie den Glauben an das Gute verloren und dafür gekämpft – auf eine Weise, die heute regelrecht naiv wirke.
Aber genau diese Naivität und Unschuld, meint Neale, müsse wiedergewonnen werden – andernfalls hätten die bösen Kräfte letztlich die Oberhand behalten.
Entfremdung als eine Art Gemeinschaftsgefühl
Wirklich durchgesetzt haben sich Naivität und Unschuld auf Neales neuem „Altogehter Stranger“ nicht – im Gegenteil schlägt oft ein abgeklärter Sarkasmus durch; der Rest ist Schrecken, Hast und Chaos. Denn es geht um Entfremdung (und natürlich auch Befremdung) als ein kollektives Gefühl – Entfremdung also als eine Art Gemeinschaftsgefühl, um es mit einem gut zu Lael Neale passenden Paradox zu sagen.

Lael Neale, in passend außerirdischem Outfit (© SevenRuck)
Dieses Gefühl kam auf, als Neale, die sich während der Pandemie in ihre Kindheitsheimat im ländlichen Virginia zurückgezogen hatte, nach drei Jahren in ihre Wahlheimat Los Angeles zurückkehrte. Deren Unruhe gab ihr nach der langen Abwesenheit das Gefühl, als Außerirdische auf einem dystopischen Planeten gelandet zu sein.
Gleichwohl bekennt sie sich zum Glauben an das Gute (oder jedenfalls einen guten Teil) im Menschen – worin dieser bestehen soll oder auch nur wie er sich manifestiert, lässt „Altogether Stranger“ allerdings eher im Unklaren.
Blues für Blues-Muffel, Omnichord und andere schöne Dinge
Natürlich wirft Laele mit genialen Metaphern wieder verschwenderisch um sich: Gleich im ersten Song, „Wild Waters“, sehen wir „Skyscrapers that claw the rain from the clouds“ und erfahren, wie unterschiedlich man Ketten verwenden kann: „Some fashion the chains / some fasten them on / some of us will stay chained / and some shake them off“.
Das Grundthema des Albums kommt lakonisch und metaphorisch schön als Entfremdung von der (unzugänglich gemachten) Natur in „All Good Things Will Come To Pass“ zum Ausdruck: „The magic of machines will make everything easy / and all good things will come to pass / all good things will come to pass / but our feet only know pavement / and the ocean is a trash can“.
„All Good Things Will Come To Pass“ ist auch insofern ein Höhepunkt des Albums, als es für eine bestimmte, leicht eigenartige, so auch noch nicht von der Künstlerin gehörte Facette der Gemeinschaftsproduktion von Neale mit ihrem langjährigen musikalischen Partner Guy Blakeslee steht: Da klingt nämlich in gleichermaßen stampfenden wie irgendwie seltsam nachlässig hingeworfenen Gitarren-Akkorden und angefieberten -soli ein Anhauch eines Blues durch, wie ihn nur Blues-Muffel spielen können. „New Ages“ tendiert ebenfalls in diese Richtung – und wer an Velvet Underground denkt, liegt nicht falsch.
Natürlich widmet sich Neale auch wieder hingebungsvoll ihrem Spezialinstrument, dem Omnichord, einem elektronischen Keyboard mit klanglicher Vintage-Anmutung, wie sie zum Beispiel die Ballade „Come On“ trägt.
Ein weiterer Höhepunkt ist das schnelle, aber leichtfüßige „Down On The Freeway“, das mit seiner eleganten rhythmischen Elektronik und mitziehenden Hintergrundsounds gut der Motorik entspricht, die der Titel wachruft. Der Freeway ist hier eine Metapher für den Aufbruch aus der Stadt, aus der es jeden zu drängen scheint – unklar bleibt, ob nur für ein Wochenende oder für immer.
Neale selbst sieht das getragene, von einem durchdringenden Mellotron geführte „Tell Me How To Be Here“ als den zentralen Song ihres neuen Albums an, weil er das Gefühl von Desorientierung und das vage Sehnen, dass es irgendwo „etwas Besseres geben muss“, man aber nicht weiß, wo und wie man es findet, am besten einfange. Der Song beschreibt einen Menschen, der sich – freiwillig oder nicht – in ein Motel eingegraben hat: „The cabinet it won’t close / there’s dust on my pillow / I can’t sleep at night / with jazz through the window /and all that is unknown / behind the cabinet door / daylight’s a million miles / from where I go at night“.
*DIY = Do It Yourself
** Der Link funktioniert bis 5.6.

Lael Neale: Altogehter Stranger (Sub Pop)
Da ist vages Sehnen, dass es irgendwo „etwas Besseres geben muss“, man man weiß nicht, wo und wie man es findet.