Morgenstund‘ hat Gesang im Mund
Auf dem Konzeptalbum „The Hours: Morning“ beschreibt der Sänger, Songschreiber und Produzent Cautious Clay die frühen Stunden des Tages und gibt sich dafür musikalisch zugänglich wie noch nie.

Cautious Clay - The Hours: Morning (Concord Records)
Mainstream und gut – das ist im Pop ganz gewiss kein unvereinbarer Gegensatz. Aber kann es richtig hochklassigen Mainstream geben?
Nun, Cautious Clays neues Album „The Hours: Morning“ ist ein Mainstream-Werk reinsten Wassers – gelackt, glatt, ultrasauber und ganz gewiss nicht billig produziert. Und genau das: hochklassig.
Cautious Clay ist als Persona nicht leicht zu fassen. Seinem Auftreten wohnt eine gewisse Reklusivität inne, die aber nichts von aggressiver Abwehrhaltung an sich hat. Auch wenn er auf einem autobiographischen Album von Diskriminierungserfahrungen seiner Vorfahren erzählt, haftet an dem 32-jährige Clevelander liberischer Abstammung kein Jota Ghetto-Geruch und Gangsta-Toughness.
Vielmehr verströmt der Sänger, Songschreiber und Produzent, der neben Gitarre, Bass, Drums und Keyboards vor allem auch mehrere Holzblasinstrumente spielt, das Flair fundierter Bildung und wirtschaftlicher Solidität: Er hat einen Abschluss in Internationalen Beziehungen an der George Washington University, vor seiner Full-Time-Karriere als Musiker hat er in der Immobilien- und Werbebranche gearbeitet.
Übrigens passt es gut ins Bild, dass seine Musik zwar in Form überraschender Arrangements und anspruchsvoller, bisweilen schwindelerregend durcheinanderwirbelnder Idiome herausfordert, nicht aber durch lärmige Dissonanzen.
Zwischen Avantgarde-Nähe und Taylor Swift
Cautious Clay heißt mit wirklichem Namen Joshua Karpeh. Der Moniker erklärt sich klarerweise aus einer Bewunderung für den Box-Champion Muhammad Ali, dessen bürgerlichen Namen Cassius Clay er nicht unwitzig paraphrasiert, aber auch aus einer gewissen Vorliebe für nominelle Alliterationen. Und da klinge, hat Karpeh einmal erklärt, „Cautious Clay“ einfach peppiger als etwa „Particular Pete“.

Cautious Clay in Morgenstimmung (© Travys Owen)
Wie bei manchen anderen, ebenfalls indivualistisch ausgerichteten Künstlern, etwa James Blake oder Owen Pallett, reicht bei Cautious Clay der Aktionsradius von avantgardenahen und gemeinhin als experimentell bezeichneten Bereichen bis in die oberste Superstar-Liga. Gleich seine erste Arbeit, die vertrackte, rhythmisch verschleppte Single „Cold War“ von 2017 – im Tiny-Desk-Concert des NPR als erster Song zu sehen & hören -, wurde zu seiner breitenwirksamsten: Taylor Swift speiste die hypnotische Melodie in ihren Hit „London Boy“ (2019) ein.
Überhaupt hat sich Clay rasch als gefragter Partner namhafter Künstler etabliert, dessen Dienste als Remixer, Co-Autor und -Produzent sich schon Billie Eilish, John Legend, John Mayer, Remi Wolf u.a. bedient haben.
Jede LP klingt anders
Seine erste Full-Length-LP „Deadpan Love“ erschien 2021 nach einer Reihe formidabler EPs. Auf dem Debüt-Album zelebriert Clay seine stilistische Vielseitigkeit, springt locker zwischen Pop, Rock, Jazz, Soul und HipHop hin und her.
Ihre Besonderheit verdankt die Platte aber dem ungewöhnlichen Einsatz bestimmter Stilmittel. So scheinen die Bläsersätze, wie der „Musikexpress“ in seiner Kritik sehr treffend bemerkt, eher neben als mit den Songs zu gehen. Auch der Verweis auf Bon Iver hat seine Richtigkeit – weniger wegen allfälliger stimmlicher Ähnlichkeiten als viel eher aufgrund der Aura der Musik, die jeden Moment bereit scheint, aus der Spur zu scheren, ohne auf die Bindung durch Strukturen ganz verzichten zu wollen.

Erwachen, strecken, dehnen… (@ Travys Owen)
Das zweite Album von 2023 ist, wie schon erwähnt und auch im Titel „Karpeh“ unmissverständlich indiziert, inhaltlich eine mehrere Generationen umfassende Autobiographie. In drei Kapiteln – „The Past Explained”, „The Honeymoon Of Exploration” und „Bitter & Sweet Solitude” unterteilt – heftet sie sich musikalisch an die Spuren des Jazz aus verschiedenen Epochen, von historischen Einflüssen bis zu den beseelten kontemporären Deutungen im letzten Kapitel, in dem Clay – auch nicht alltäglich – die Segnungen des Alleinseins preist.
Auch „The Hours: Morning“ ist thematisch gerahmt: In Form offensichtlich archetypisch angelegter Episoden werden hier über einen zeitlichen Rahmen von 5.00 bis 12.00 Uhr die frühen Stunden eines Tages ausgebreitet.
Das Konzept klingt, wie es der Titel – The Hours, Doppelpunkt – schon orthographisch suggeriert, nach Fortsetzungsgeschichte: The Hours: Afternoon, The Hours: Evening und The Hours: Night sollten durchaus noch drinnen sein (bislang hat Clay diesbezüglich allerdings noch nichts verlauten lassen).
„The Hours: Morning“ fängt an mit den Ausläufern einer langen Nacht, dann wechselt die Erzählung aber in die Perspektive einer Person, die regulär früh aufsteht, sich physisch wie auch metaphysisch durch den Verkehr auf der Straße und das Gedankenchaos im eigenen Kopf quälen muss, ihrer wie auch immer gearteten Arbeit nachgeht, im Lauf des Vormittags in die Spur kommt und mit dem „Smoke Break“, wie die 30-minütige Mittagspause hier ohne zwingende Konnotation mit Rauchen umschrieben ist, eine erste Zeit der Einkehr, vielleicht auch Regeneration findet.
Wie einleitend schon klar dargelegt, gibt sich Clay hier musikalisch mit einer wohltemperierten Mischung aus Pop, sehr gepflegtem Rock und R&B so „niederschwellig“ und zugänglich wie nie zuvor. Ein stellenweise aufheulendes Saxophon ist da schon das Äußerste, was er seinen Hörern an möglicher Irritation zumutet. Dafür sollte den kunstvoll arrangierten Stimmen, die sich begleitend, ergänzend und erweiternd um Clays sonor-dunkles Organ schmiegen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.
Die beste Phase haben die Morgenstunden musikalisch in der Mitte, sprich: um 9.00, 10.00 Uhr, wenn Clay in „Promises“ in ein abenteuerliches Falsett steigt und in „Father Time“ zu zügigem Pop-Temperament findet.
Es geht ja auch um die Zeit, in der der Mensch, wie das so schön heißt, auf Betriebstemperatur kommt. Dass allerdings auch das abschließende, melodisch elegante „Smoke Break“ zu den animiertesten Songs des Albums zählt, mag zwar dramaturgisch nicht ganz ins Bild passen – erfreulich zu hören ist es allemal.

Cautious Clay - The Hours: Morning (Concord Records)
Die beste Phase haben die Morgenstunden in der Mitte, ungefähr um 9.00, 10.00 Uhr - die Zeit, in der der Mensch „auf Betriebstemperatur kommt“.