Von Bad Days zu Bon Jour
Was man in diesem Jahr bisher nicht überhört haben sollte: Songs u.a. von Destroyer, Addison Rae, Pulp, Haim und DJ Koze (Reprise 2).

Bunter noch als das Spielzeug: Die österreichische Band Bon Jour und ihre neue Single "Lego" (c) BonJour
Da im Sommer, der gerade zu einer zweiten Hochblüte ansetzt, das Aufkommen aktueller neuer Veröffentlichungen überschaubar ist, eignen sich die heißen Tage gut für den einen oder anderen Rückblick auf Musik aus dem ersten Halbjahr. Nach Reprise 1 – mit Songs u.a. von Annahstasia, Divorce und Wet Leg – nun also eine zweite Folge.
Und wir beginnen in einer italienischen Stadt, auf welche – zumindest außerhalb Italiens – eine Wiener Band nun gut zehn Jahre lang eine Art oberstes Song-Privileg hatte. Nach dem durchschlagenden Erfolg von Wandas „Bologna“ gibt es seit Beginn dieses Jahres Konkurrenz, und zwar einen weiteren Song mit der oberitalienischen Metropole im Titel: Er stammt von Dan Bejar und dessen kanadischem (Band-)Projekt Destroyer. Anders als im feist-frugalen Erinnerungspop des Marco Wanda dominieren beim großen Pop-Dramatiker und -Cineasten aus Vancouver düstere Klänge und Farben, wobei Bologna als Ausgangspunkt für Verlust und Veränderung steht (Gott – oder wer auch immer – weiß, warum). Trotzdem entwickelt der Song, unterstützt von Fiver-Sängerin Simone Schmidt, dank dichter Instrumentierung & perkussiver Rhythmik einen unwiderstehlichen Sog, der im Video (von Regisseur David Galloway) in zersplitternde Bildfolgen übersetzt wird. An Amore und Tante Ceccarelli denkt da wohl niemand mehr…
Musikalisch wesentlich reduzierter, aber um nichts weniger eindringlich, präsentiert sich die in Berlin lebende Norwegerin Tara Nome Doyle auf „Bad Days“, einem der beeindruckendsten Songs ihres im April veröffentlichten (dritten) Albums „Ekko“. Die intime Verve ihres melancholischen Singsangs verströmt trotz wenig aufbauernder Lyrics – „Bad days never felt this good before/ When I’m down you join me on the floor“ – eine wohlige Wärme, sodass derlei bad days sich dank wunderbar künstlerischer Mutationskraft in kleines (Hör-)Glück verwandeln.
Von ganz anderer femininer Ausstrahlung, Temperament und Aussagekraft ist „High Fashion“, das auffälligste Song-Statement von Addison Rae’s Debütalbum „Addison“ (und zuerst im Februar als Single veröffentlicht). Die US-(TikTok)Influencerin, Schauspielerin und Sängerin lässt es – im Gefolge etwa von Charli xcx – an schriller Bratness und stolzem Girl-Self-Empowerment nicht fehlen, wie die unmissverständlichen Zeilen im Song (und Video) demonstrieren: „I don’t want cheap love/ I’d rather get high fashion“ – und als finaler Kickout, bei dem es manch (männlichen) Hörer/Seher die Schuhe ausziehen könnte: „You know I’m not an easy fuck (Ah)/ But when it comes to shoes/ I’ll be a slut“.
Dagegen von fast spießigem 50er-Jahre-Charme, willkommen abkühlend & augenzwinkernd kess, ist eine Zeile, die DJ Koze – gemeinsam mit Arnim Teutoburg-Weiß und den (zwei) Düsseldorf Düsterboys – zu dem Song „Wie schön du bist“ kompiliert hat. Sie lautet „Du hast erzählt, gelacht/ Mir gezeigt, wie schön du bist“ – und stammt vom Ostdeutschen Holger Biege und dessen Lied „Bleib doch“ (1978). Was die Vier daraus machen, ist ein grandioses Hörvergnügen – und ich verspreche, diesen – stimmlich verfremdeten – Refrain kriegt man, hört man ihn nur zweimal hintereinander, für den Rest dieses Jahres nicht mehr aus dem Kopf (und Gehörgang).
Im großen Retro-Jahr des Brit-Pop (nach der livehaftigen Verbrüderung bei Oasis kommt im September noch ein neues Album von Suede) haben Jarvis Cocker und Pulp Anfang Juni die bebrille Nase vorne gehabt – und mit „More“ ihr erstes Album seit 24 Jahren veröffentlicht, auf dem – neben vielen, überraschend frischen ein- & ausladenden Songs – mit „Got To Have Love“ eine fast überlebensgroße Hymne an das stärkste aller Gefühle sich findet. „When love disappears, life disappears“, heißt es darin schlüssig & bündig, während sich der Hauptchorus – „Got to have love, you’ve got to have love/ Yes, you’ve got to have love, you’ve got to have love…“ – girlandenhaft und vielfach mäandernd (und dabei das heilige Wort vollmundig buchstabierend) durch die sound-üppigen 5 Minuten dreht & windet – und auch eine längere Verweildauer im kollektiven wie individuellen Songgedächtnis beansprucht.
Aber ach, hat man solche eine – ja wirklich viel Platz & Hingabe beanspruchende – Love einmal um den Hals (oder auch anderswo), will man sie mitunter wieder loswerden, was Danielle Haim von der gleichnamigen Schwesternband zuletzt gelungen ist (mit der Trennung von Partner & Produzent Ariel Rechtshaid). Davon handelt nicht nur ein Gutteil des neuen Haim-Albums (mit dem bezeichnenden Titel „I Quit“), sondern ganz speziell der Song „Relationships“, welcher – über ein dominantes Piano-Ostinato hinweg in mehrstimmigem Gesang– das subjektive Problem gleich auf eine allgemeine Metaebene zieht & abhandelt, um zu einem relativ simplen & desillusionierenden Gesamturteil zu gelangen: „fucking relationships“.
Damit zurück zum Sommer & etwas wirklich Neuem, das erst wenige Tage alt ist. Und zwar die Single „Lego“ der österreichischen Band Bon Jour (die – zusammengestoppelt aus mancherlei heimischen Popgefilden – sich immer mehr zu etwas Eigenständigem formt & bildet), dem Vorboten ihres zweiten Albums, das für Herbst angekündigt ist. Tatsächlich hat sich aus dem bisherigen, sehr gefälligen Globalpop-Idiom nun ein knallbunter Soundmix aus „psychedelic funk, surf rock, sun-drenched pop“ (so ihre Selbstbeschreibung) herausgemendelt. Und damit schafft diese Formation buchstäblich spielend, was Tara Nome Doyle nur im musikalischen Umkehrverfahren gelingt: nämlich aus bad days einen bon jour zu machen.
(Weitere heimische Produktionen, mit teils bereits längerer heuriger Verweildauer, u.a. von Der Nino aus Wien oder Das Schottische Prinzip, lese/siehe/höre Bruno Jaschkes Bilanz „Die Gelassenheit der inneren Leere“).

Bunter noch als das Spielzeug: Die österreichische Band Bon Jour und ihre neue Single "Lego" (c) BonJour