Zu viel von vielem
Begleitet von zahlreicher Gast-Prominenz kleidet Matt Berninger, Sänger von The National, auf seiner zweiten Solo-LP „Get Sunk“ detail- und assoziationsreiche Inhalte in vielfältige Arrangements. Dabei verliert er hin und wieder etwas den Fokus.

Matt Berninger: Get Sunk (Book/Concord Records)
Es wird sich unter Anhängern des gepflegt-individualistisch-intelligenten Indie-Rock, unter Menschen, die, sagen wir, Radiohead, Pulp oder International Music lieben, schwerlich jemand finden, der* The National verabscheut. Die weltweite Akzeptanz ihrer vertrackten, bisweilen recht freiläufigen Mischung aus Indie-Rock, Post- und Noise-Rock, Folk und opulentem Stadion-Rock manifestiert sich sowohl in hohen Charts-Notierungen wie auch regelmäßiger Präsenz ihrer LPs in Best-of-Jahreslisten und zahlreichen Preisen, darunter einem Grammy (von drei Nominierungen).
The National beherbergen mehrere profilierte Akteure, insbesondere die an Gitarren und Tasteninstrumenten tätigen Brüder Bryce und Aaron Dessner, die als Kollaborateure für Musiker aus unterschiedlichsten Bereichen von Steve Reich bis Taylor Swift, die sich bei mehreren Platten Aarons Diensten als Produzent und Co-Autor versichert hat, gefragt sind.
Mischung aus zerstreutem Professor und Künstler-Persona
Trotzdem ist das (verhaltens)auffälligste Mitglied des in Brooklyn formierten Quintetts sein jeglichen instrumentalen Agenden abholder Sänger und Texter Matt Berninger.

Ehrensache: Gestylt in devastiertem Ambiente (© Chantal Anderson)
Mit Brille, Fuselbart und schütterer Behaarung etwas abgehalftert, aber irgendwie doch auch interessant aussehend, meist etwas nachlässig und doch nicht ohne Stil gekleidet, von gleichermaßen etwas linkischem wie doch … nun ja, charismatischem Bühnengehabe, wirkt er wie eine Mischung aus zerstreutem Professor und eigenwilliger Künstler-Persona, bei der unmöglich dingfest zu machen ist, wie viel Kalkül hinter ihrer öffentlichen Präsentation steckt.
Unumstritten ist Berninger indessen als Texter. Obwohl er als solcher auch nicht immer eindeutig/schlüssig zu dechiffrieren ist, beeindruckt jedenfalls die Raffinesse, mit der er brüchig oder inkohärent anmutende Szenarien, die unterschiedlichste Schattierungen zwischenmenschlicher Kommunikation beleuchten, mit Killer-Zeilen wie „You get mistaken for strangers by your own friends / When you pass them at night“ und verbaler Grandezza in Form eines „un-innocent, elegant fall into the un-magnificent lives of adults“ infiltriert.
Charakterisieren lässt sich sein lyrisches Werk zumindest dergestalt, dass es eher nicht als Propaganda für Spaßkultur zu verkennen ist.
2020 fand es Berninger erstmals an der Zeit, in solistischer Mission öffentlich vorstellig zu werden. „Serpentine Prison“ hieß sein erster Alleingang, nach dessen Veröffentlichung er allerdings ins Loch der Depression fiel und von einer Schreibblockade heimgesucht wurde. Die beiden 2023 im Abstand von fünf Monaten veröffentlichten The National-Alben „First Two Pages of Frankenstein“ und „Laugh Track“ reflektierten denn auch diesen seinen Kampf mit der eigenen Psyche.
Berninger in einer Covid-beeinträchtigten Live-Session zu seinem ersten Solo-Album, „Serpetine Prison“, schon hier stimmlich unterstützt von Julia Laws (Ronboy)
Vor kurzem ist nun Berningers zweites Album „Get Sunk“ erschienen. Wie bei den Alben von The National kann Berninger auch solo der Unterstützung großer Namen sicher sein; hier sind es u.a. Produzent Sean O’Brien, der auch mehrere Songs mitgeschrieben hat, Paul Maroon und Walter Martin von den Walkmen, Meg Duffy (Hand Habits), Julia Laws (Ronboy) oder Trompeter Kyle Resnick, der bei The National zum Live-Qutfit gehört und beim Beirut-Klassiker „Elephant Gun“ mit dabei war. Und der legendäre Booker T. Jones, Produzent von „Serpentine Prison“, versagt Berninger auch diesmal seine Hilfe nicht.
„Geht Sunk“ gilt bisweilen auch für das Verhältnis der Texte zur Musik
Es gibt ein Luxus-Problem mit beiden von Berninigers Solo-Gängen: Er weiß entweder nicht recht, wo er hinwill, oder er will zu viel von vielem auf eine Platte pressen. Das ist bei „Get Sunk“ sogar noch eklatanter als bei „Serpentine Prison“.
So haben wir hier allein in den ersten 20 Minuten melodisches Understatement, demgegenüber üppigen Stadion- und Uptempo-Rock, Klavier-Balladistik mit Bläser-Spitzen, akustischen Zeitlupen-Folk und assoziatives Gedanken-Stakkato in Form einer Spoken-Word-Performance.
Dazu wirkt die Musik stellenweise etwas überarrangiert. Das kann im Kontrast zu Berningers Stimme, die öfters einmal kaum die Expressivität eines Murmelns übersteigt, den Effekt haben, dass die detailfeinen Inhalte nicht richtig greifen, quasi von der Ebene der Wahrnehmung runterrutschen.
Das äußert sich auf etwas eigentümliche Weise im Opener „Inland Ocean“, der mit monotoner Instrumentierung und säuselndem Chor so sedierend angelegt ist, dass sein rätselhafter und leicht tragisch anmutender Text um einen (vermutlich längerfristigen) Regenerationsaufenthalt in Indiana unterzugehen droht (vielleicht just im nämlichen „Inland Ocean“, mit dem der an Indiana angrenzende Lake Michigan gemeint sein könnte).
Das klassische Programm, nämlich Überwältigung durch Bombast, spielt es wiederum in „Bonnet Of Pins“, das ein – für den Protagonisten spürbar eher unangenehmes – Wiedersehen mit einer alten Bekannten (oder Freundin) schildert.
Recht stimmig ist das reduzierte „Breaking Into Acting“, in dem sich Berninger im Duett mit Meg Duffy sarkastisch darüber auslässt, dass Menschen Gefühle spielen und etwa auf Abruf weinen können. Und mit seinen beiden letzten Songs macht „Geht Sunk“ den Abschied sogar noch recht schwer: Solide abgestützt durch den begleitenden Gesang Julia Laws erzählt das eingängige „Silver Jeep“ die Geschichte einer sorgsam gehüteten Obsession, während „Times Of Difficulty“ für schwierige Lebenssituationen sympathisch triviale Lebensweisheiten in einem simplen Sing-Along-Refrain anbietet: „In times of heartache get drunk / In times of tears get sunk / In times of shame forget / In times of weather get wet.“
Berninger mit Meg Duffy (Hand Habits): „Breaking Into Acting“
*Weibliche Form mitgemeint

Matt Berninger: Get Sunk (Book/Concord Records)
Am Ende, wo die stärksten Songs platziert sind, wird der Abschied doch wieder schwer.