Der Hinfälligkeit abgetrotzt
Mit „Lights And A Slight Taste Of Death“ hat Oliver Welter mit seiner Band Naked Lunch wieder ein großes Werk vorgelegt. Im Gespräch erklärt er, wie er in Wolfgang Lehmann einen wichtigen Helfer gefunden hat und warum er heute besser singt denn je.

Naked Lunch: Lights And A Slight Taste Of Death (Tapete Records)
„Ich habe diese Band gegründet und ich werde sie zu Grabe tragen, wenn mir danach ist„.
Dieser Satz, von Oliver Welter 2022 dem Autor dieser Zeilen für eine Geschichte in der „Wiener Zeitung“ ins Smartphone diktiert, ist beim Erscheinen des neuen Naked Lunch-Albums „Lights And A Slight Taste Of Death“ oft zitiert worden.
Ob das achte Opus der Band, die ausdauernd und hingebungsvoll wie kaum eine andere aus Österreich die oberste Spielklasse des international ausgerichteten Indie-Rock zelebriert, noch Nachfolger finden wird, ist schon nicht allein mehr dem Wollen, sondern auch der Physis und dem Schicksal überantwortet.
Beider Zusammenwirken – die Macht des Schicksals und die Ohnmacht der Physis – bekam Naked Lunchs Mastermind Oliver Welter, der die Songs schreibt, singt und Gitarre spielt, dramatisch durch eine Krebserkrankung vermittelt, die ihn ein Jahr von jeglicher künstlerischer Aktivität fernhielt.
„Zumindest vorübergehend“ aus den Klauen der Krankheit wieder in die Arbeits- und Gesellschaftsfähigkeit entlassen und zum dritten mal Vater geworden, konnte er vorderhand einmal diese Platte fertigen.
Alles Weitere ist – pardon die Platitüde! – Zukunftsmusik und eigentlich auch Kaffeessudlesen.
„Nachdem ich nicht weiß, ob es den Erdball in eineinhalb Jahren noch gibt, kann ich für darüber hinaus nichts sagen“, sagt Welter im Gespräch mit „extra-music“. „Sagen wir so: Das ist der Ist-Zustand der Band – es gibt eine neue Platte, und was in zwei, drei. oder in zehn Jahren sein wird, weiß ich nicht.“
Karriere in zwei Phasen
Zeit ist im Naked Lunch-Imperium ein im wahrsten Wortsinn dehnbarer Begriff. Zwischen der letzten regulären NL-LP „All Is Fever“ und „Lights And A Slight Taste Of Death“ liegen 12 Jahre und die Soundtrack-LP zu „Jack“, Elisabeth Scharangs Film über Jack Unterweger – eine von vielen Auftragsarbeiten für Film, Fernsehen und Theater, die Welter im Laufe der Jahrzehnte mit Naked Lunch und noch häufiger allein geleistet hat.

Ein gepflegter Gentleman in reiferen Jahren: Oliver Welter (© Michelle Rassnitzer)
Rückblickend stellt sich die Karriere von Naked Lunch, die in den frühen 1990er Jahren in Kärnten begonnen hat, als Drama in zwei Akten von krass ungleicher Länge dar: Am Anfang war eine (rückblickend gesehen) ziemlich kurze frühe, vom Streben nach Starruhm bestimmte Periode – nominell versinnbildlicht in ihrer zweiten LP, die den von Ironie wie auch Wunschdenken diktierten Titel „Superstardom“ trug.
Nachdem sie trotz Gastspielen bei Major Labels, vorübergehender Ansiedelung in der Pop-Metropole London und ähnlich vermeintlich karrierefördernden Kinkerlitzchen gründlich auf die Schnauze gefallen waren, nahmen sich Naked Lunch eine Auszeit, erfanden sich – hier stimmt es definitiv wie kaum wo sonst – neu und leiteten mit der LP „Songs For The Exhausted“ ihre zweite, bis heute andauernde Phase ein: die des künstlerischen Triumphs.
Von nun an produzierten Naked Lunch in zwar recht sparsamer Frequenz, aber umso unbeirrbarer breit angelegte Kunstwerke – vergleichend darstellbar vielleicht als fiktive Kreuzung aus den Radiohead von „OK Computer“ und den Mercury Rev nach „Deserter´s Songs“ -, die auf dynamischem Rock, Opulenz und elektronischen Soundspitzen mit Richtung Schwermut ausschlagendem Stimmungsbild gebaut war.
Der 2007 veröffentlichte Longplayer „This Atom Heart of Ours“ bescherte der Band sogar einen Amadeus; „All Is Fever“ untermauerte 2013 den Ausnahmestatus des Quartetts.
Weltumarmender Opener
„Lights And A Slight Taste Of Death“, das aktuelle Album, das es übrigens in den heimischen LP-Charts in die Top Ten geschafft hat, beginnt mit einem grandiosen, weltumarmenden Opener, wie es schon „Keep It Hardcore“ auf „All Is Fever“ war und wie sie Welter offensichtlich kann wie kaum ein anderer.
„To All And Everyone I Love“ ist eine Liebesbotschaft an den gesamten Orbit, an alle, die guten Willens sind, an Plätze und Geschehnisse, die das Leben lebenswert machen (wozu durchaus auch „the fall of every fascist“ gezählt wird) – vorgetragen zu Klavier und sich allmählich verdichtenden Gitarren und Jubelchören in beseelter, fast gospeliger Inbrunst.
Was danach kommt, ist ein Gemenge aus Seelen-Striptease, Existenzialismus, Hoffen, Sarkasmus, cleveren Paraphrasen auf Soul- und Grunge-Klassiker (wie „Take Me To To River“ oder „Touch Me I´m Sick“), Niedergeschlagenheit und Aufbäumen; musikalisch eingefasst in Rock, der von symphonischen Elementen, vielen Harmonie-, Kontrapunkt-, Begleit- und Chorstimmen und sporadischen Noise-Brechern interpunktiert wird.
Das klingt im Prinzip alles vertraut – nur ist es noch eindringlicher akzentuiert, und zwar in alle Richtungen, ob himmelhochjauchzend oder zu Tode betrübt. Und genau das, Schwelgerisches noch schwelgerischer, Depressives noch depressiver, Übellauniges noch übellauniger zu gestalten, sei seine Intention für diese Platte gewesen, erklärt Welter.

Naked Lunch 2025 (© Apollonia Theresa Bitzan)
Auch Welters Gesang hat eine bemerkenswerte Intensitätssteigerung durchgemacht. Der Musiker führt sie auf die „Winterreise“ zurück, die umjubelte Neuinterpretation von Liedern von Franz Schubert, die er seit 2021 mit der Pianistin, Komponistin und Performerin Clara Frühstück aufführt und 2022 auf Platte veröffentlicht hat.
„Ich glaube, es hat mein Singen verbessert“, meint Welter. „Ich kann nicht in einen Schubert-Abend gehen, ohne mich vorher tagelang einzusingen. Das wäre verantwortungslos. Bei Naked Lunch ginge das. Nicht aber bei der 70minütigen, hochkonzentrierten Performance, die man bei der ,Winterreise‘ bringen muss. Das muss souverän sein – so souverän ich es halt kann. Dazu habe ich enorm viel Singen geübt, und ich denke, das hat sich ein bisschen auf meine Stimme ausgewirkt.“
Welters Winterreisebegleiterin Clara Frühstück spielt übrigens auf drei Tracks von „Lights And A Slight Taste Of Death“ Klavier.
Zwei langjährige Mitstreiter sind indessen nicht mehr dabei: Keyboarder Stefan Deisenberger , der mittlerweile ein gefragter Produzent für Voodoo Jürgens, Garish, Sleep Sleep und andere Acts ist.
Und natürlich Bassist Herwig Zamernik: Auch er ein gefragter Produzent (u.a. Pauls Jets, Voodoo Jürgens, Kreisky, Ansa Sauermann), Besitzer eines hochfrequentierten Studios (Fuzzroom); außerdem Mitbetreiber des rührigen Lotterlabels, Erfinder und Organisator des alpinen Fuzzstock-Festivals. Und als Fuzzman ein erfolgreicher Musiker, dem es gelungen ist, das Genre Schlager mit subversivem Gedankengut, echtem Witz und Intelligenz zu infiltrieren.
Beide haben sie sich in der zweiten Hälfte der Zehner-Jahre von Naked Lunch verabschiedet. „Ich kann nur mit größter Wertschätzung von ihnen sprechen. Das sind unfassbar gute Leute, sowohl menschlich wie auch was ihr musikalisches Schaffen betrifft. Die sind nicht nicht umsonst dort wo sie sind“, sagt Welter.
Insbesondere Zamernik, „der ein enorm wichtiges musikalisches und persönliches Gegenüber war“, hinterließ mit seinem Abgang eine veritable Lücke.
„Ich kann einiges, aber bestimmte Sachen auch nicht, muss ich auch nicht können. Ich brauchte jemand, dem ich vertrauen konnte“, bekennt Welter.

Große Musikerpersönlichkeit: Neuzugang Wolfgang Lehmann (© Apollonia Theresa Bitzan)
Fündig wurde er in Wolfgang Lehmann. Auch so eine Art Tausendsassa der heimischen Musikszene, begabt als Songwriter, Produzent und stilistisch und instrumental vielseitiger Musiker.
„Wolfgang Lehmann habe ich voriges Jahr beim Popfest getroffen, wo er mit seiner All-Star-Band als letzte Zugabe unser ,God‘ gespielt hat. Das hat mich wahnsinnig bewegt – zum einen weil es großartig gespielt war und zum anderen, weil er es einmoderiert hat mit den Worten, ,Ohne die folgende Nummer hätte ich wahrscheinlich nie Musik gemacht.‘ Da wusste ich, ich musste ihn ansprechen. Fragte ich: ,Kannst du dir vorstellen, ein Naked Lunch-Album zu machen?‘ Sagte er: ,Ja!‘ Das war´s.“
Neben Lehmann an den Reglern, Gitarren und Synthies unterstützen Welter bei „Lights And A Slight Taste Of Death“ die schon länger bewährten Kräfte Alex Jezdinsky (Drums) und Boris Hauf (Keyboards, Sax). Gäste sind neben Clara Frühstück die Sänger/innen Maiija (Marlies Jagsch), Welters Sohn Oskar Haag, Lisa Schrammel, Betty Semper, Anna Hauf, Trompeter Alex Kranabitter sowie für ein paar Songs Mario Zangl am Bass.
Für Naked Lunch steht als nächstes (ab Jänner 2026) eine Tour durch Österreich und Deutschland auf dem Programm, danach wird Oliver Welter über kurz oder wohl sein shon länger announciertes Solo-Album angehen. Wann das ungefähr herauskommen soll? Siehe den Anfang dieser Geschichte.
Live: 22.1. Wien, Arena; 23.1., Graz, ppc; 31.1. Salzbug, ARGE Kultur; 22.5. Klagenfurt Festival Burghof.

Naked Lunch: Lights And A Slight Taste Of Death (Tapete Records)
Schwelgerisches noch schwelgerischer, Depressives noch depressiver, Übellauniges noch übellauniger zu gestalten, war Welters Intention für die neue Platte.



