Experimentierfreude und Sorglosigkeit
Von Punk bis Kammermusik: Das filmische Bandporträt „Slow Pulse Boys“ zeigt die englische Band And Also The Trees im Wandel der Jahrzehnte.
Am Anfang war Punk. „Ein kompletter Gamechanger. Nicht nur in Bezug auf Musik und Mode, sondern auch hinsichtlich dessen, was wir bisher kannten: Dass man nicht aus ‚gutem Hause‘ sein musste, keinen Universitätsabschluss brauchte und keine klassische Musikausbildung, um Musik zu machen“, erzählt Nick Havas, Gründungsmitglied und fast 20 Jahre Schlagzeuger der englischen Band And Also The Trees (AATT). „Punk gab den Leuten eine Lizenz zum Musikzieren, grünes Licht für neue Möglichkeiten.“ Und ebendiese ergriffen Ende der 1970er Jahre auch die vier Freunde aus Inkberrow in Worcestershire, wo es mehr Kühe gab als Häuser – und viel Langeweile. Um dieser zu entkommen, gründeten die zwei jungen Brüderpaare Jones und Havas Ende der 70er Jahre eine Band, allesamt Autodidakten, mit selbst gebauten Verstärkern sowie musikalischer Experimentierfreude und Sorglosigkeit.
Der kürzlich als DVD erschienene Film „Slow Pulse Boys“ aus Frankreich (erschienen bei FD) zeichnet nun die Geschichte dieser Band nach. Anfangs noch geprägt von Gruppen wie Siouxie and the Banshees, The Clash, The Damned oder der musikalischen Vielfalt der John-Peel-Sessions auf BBC, kristallisierte sich schon bald eine typische Handschrift heraus. Denn im Unterschied zu anderen Bands jener Zeit, die aus relativ gewöhnlichen musikalischen Mustern neue Melodien schufen, behandelten AATT ihre Lieder als organische Einheit, in der Spannung ebenso wichtig war wie Textur.
Wechselspiel von laut & leise
Nick Havas’ Subtilitäten an den Snaredrums zeugten zwar nicht unbedingt von Virtuosität, doch sein Schlagwerk ließ das Ensemble atmen, während der Bass die Zyklen strukturierte. Simon Huw Jones wiederum suchte mit seinem kräftigen Sprechgesang nicht nach willfährigen Melodien, seine Stimme war wie ein den anderen antwortendes, leidenschaftliches Instrumentarium. Zu diesen Besonderheiten kam der gefinkelte Gitarrensound von Justin Jones hinzu, mit viel Raum für Moll- und Nicht-Dur-Akkorde und dem charakteristischen Wechselspiel von lauten zu leisen Passagen.
Nach Auftritten als Vorband von The Cure Anfang der 80er Jahre hofften AATT auf einen Plattenvertrag bei Fiction Records, doch für das Cure-Label waren sie „nicht poliert genug. Wir hatten kein kommerzielles Potential“, erzählt Sänger Simon Huw Jones. Ihren ersten Plattenvertrag bekamen sie beim Punk-Label No Future (später Reflex), wo sie zumindest mit einem „gedämpften Enthusiasmus“ aufgenommen wurden.
Verlagerung nach Amerika
Und so erzählt der Film auch davon, wie eine Band viele Jahre darum rang, von Außenseitern zu einem Teil der etablierten Szene zu werden. Doch auch eine Einladung zur Session bei John Peel verhalf nicht zum gewünschten Erfolg. Sie blieben Außenseiter – ein Status, der sich mitunter auch in ikonografischer Hinsicht manifestierte: So fiel die Wahl für das Motiv des Debütalbums auf ein Nesselfeld – ein krasser Kontrast zur mittlerweile ikonischen Grafikkunst der Albumhüllen von 4AD oder Label Factory Records jener Zeit.
Ihr Dasein als Randerscheinung fand allerdings in Frankreich und wenig später auch in Deutschland ein jähes Ende, denn AATT stießen dort während ihrer ersten Tournee überraschenderweise auf begeistert mitsingende Fans – und bekamen sogar „Encore“-Chöre zu hören. Um ihren Bekanntheitsgrad zu erhöhen, nahmen sie für das Radio eine Cover-Version von Cat Stevens auf. Doch „Lady D‘Arbanville“ misslang: „Wir haben damals alle guten Teile des Songs rausgenommen“, bedauert Gitarrist Justin Jones heute.
Nach Wut, Zorn und ungestümer Impulsivität der frühen Punk-Jahre und der Zeit der unterkühlten Cold Wave läutete ihr Album „The Klaxon“ (1993) einen markanten Wendepunkt ein. Ihr lyrischer und musikalischer Schwerpunkt verlagerte sich nach Amerika, Gitarrenrock und Jazz-Elemente der 1950er Jahre dominierten, bis AATT Anfang des neuen Jahrtausends zu ihren ländlichen Wurzeln zurückkehrten. Neben Anleihen aus klassischer Musik seit Anbeginn kommen seither auch kammermusikalische und folkloristische Elemente oder serielle Musik zur poetischen Energie von Sänger Simon Huw sowie zum treibenden Schlagwerk, mittlerweile von Drummer Paul Hill, hinzu. Bis heute folgen ihre Lieder keinen herkömmlichen Mustern, sondern sind elaborierte, rhythmisch komplexe Strukturen, was sie auch live zu einer nach wie vor spannenden Band macht.
Persönliches Porträt
„Slow Pulse Boys“ ist nur nicht nur ein musikalisches, sondern auch sein sehr persönliches Porträt, erzählt von nunmehrigen und einstigen Bandmitgliedern. Auf Kommentare aus dem Off wurde verzichtet, Musikjournalisten und Produzenten ergänzen die Erzählungen. Der Film lebt von Gegenüberstellungen von einst und jetzt: einerseits durch alte und neue Live-Aufnahmen, andererseits durch alte Fotoaufnahmen und Bandplakate, die aktuellen Filmaufnahmen gegenüberstehen. Schöne Aufnahmen aus Inkberrow zeigen die wesentliche Inspirationsquelle der Band: Natur und Landschaft als Widerspiegelung von Gefühlen. Das Leben auf dem Land, samt ihrer dunklen Gestalten, durchzieht, ebenso wie Anleihen aus der Literatur, ihre poetischen Lyrics bis heute.
Der rund zweieinhalbstündige Film besteht aus 23 Kapitel, meistens dienen die AATT-Alben (darunter 15 Studioalben) als Aufhänger, ein jedes steht exemplarisch für eine ganz spezifische Phase der Band. Besondere Aufmerksamkeit ist den Anfangsjahren gewidmet, so gesehen ist die hier gezeigte Geschichte von AATT auch eine Dokumentation über die Szene jener Zeit. In Anbetracht dieses Schwerpunktes hätte dem Film mitunter etwas mehr Stringenz und Kohärenz gutgetan, da es durchaus interessant gewesen wäre, inwieweit sich der Einfluss von Musik und das Verhältnis zu anderen Musikern und Formationen weiterentwickelt hat. Trotzdem ist der Film nicht nur für Fans eine schöne Dokumentation einer Band, die auch mit neueren Werken einen so besonderen wie unkonventionellen musikalischen Fingerabdruck hinterlässt.
Der Film erzählt auch davon, wie eine Band viele Jahre darum rang, von Außenseitern zu einem Teil der etablierten Szene zu werden.