Ein Jongleursakt

Unter ziemlich eigenartigen Umständen ist das neue, einmal mehr großartige Beirut-Album „A Study Of Losses" zustande gekommen: Der Auftraggeber war ein schwedischer Zirkus, die narrative Grundlage lieferte ein Buch der deutschen Autorin Judith Schalansky.

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10. Mai 2025

Beirut: A Study of Losses (Pompeii Records)

Es gibt falsche Mythen und Wahrheitsverzerrungen, die sich, wie oft sie auch schon ihrer Unzulänglichkeit und Unrichtigkeit überführt worden sind, hartnäckig wie Glaubensbekenntnisse halten. Geht´s-der-Wirtschaft-gut-geht´s-uns-allen-gut ist so ein überstrapazierter Stehsatz, der in Bezug zur Realität ein krasses Übergewicht an Diskrepanzen gegenüber faktischen Beweisen zu verzeichnen hat.

Die Pop-Musik kennt den jahrzehntelang gepflegten Antagonismus zwischen den „braven, angepassten Beatles“ und den „rebellischen Rolling Stones“ – die wiederum, da dreht sich das Karussell der Tatsachenverzerrungen in die andere Richtung, nie was anderes gekonnt hätten als die Beatles (schlecht) zu kopieren.

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In der Stones-Geschichtsschreibung kursiert – genau unter jenen, die das großteils unsägliche Alterswerk wegen seiner „Rauheit“, Schnörkellosigkeit“, „Geradlinigkeit“ usw. blablabla preisen – gerne die einfältige Lesart, ihr frühverstorbener exzentrischer Genius Brian Jones hätte der Band mit all seinen Talenten eher geschadet als genützt.
In Wahrheit wären die Stones ohne Jones eine maximal akzeptable Rhythm & Blues-Combo geblieben und nicht die mitreißende Band geworden, die dank der unorthodoxen Beiträge ihres Multi-Instrumentalisten in ihrer wegweisenden Phase Mitte der 60er-Jahre mit den Avanciertesten wie den Yardbirds, Beatles, Byrds, Who und Kinks mitspielen konnte.

Über den Sänger Joe Cocker war oft zu lesen und hören, dass er keinen einzigen Song geschrieben hätte. Indessen hat Cocker in der Frühphase seiner Karriere mit wechselnden Partnern etliche, bisweilen sogar recht gute Songs kreiert – „Something To Say“ ist etwa von der in der Auswahl ihres Repertoires sehr wählerischen Hardrock-Band Spooky Tooth gecovert worden.

„Balkan-Pop“ forever

Zach Condons Projekt Beirut ist vom Karrierebeginn an bis heute mit dem Etikett „Balkan-Pop“ gestempelt.

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Als stilistische Definition stimmt das für genau eine der sieben regulären, von einem Compilation-Album und zwei ebenfalls nicht unbedeutenden EPs ergänzten Beirut-LPs: Das Debüt „Gulag Orkestar“ von 2006, das der aus New Mexico stammende Condon im Alter von 20 Jahren als bläserbefeuerte Hommage an die osteuropäische Kultur veröffentlicht hat. Der Rest ist Floskel, Denkfaulheit und Ignoranz.

Schon bei der zweiten Beirut-LP „The Flying Cup Club“ war der Balkan überwunden und triumphal Einzug in französische Tanzsalons und Bars gehalten. Aber noch das dritte Beirut-Album „The Rip Tide“ von 2011 bezeichnet ein sich selbst mit schwerem Genieverdacht belastender Rezensent im „Standard“ als „schräg gelegten Balkan-Hybrid-Pop im dritten Aufguss“ und „Eigenplagiat“.

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Die Ironie dieser Geschichte ist, dass sich genau mit diesem Album „The Rip Tide“ die Anlage der Musik signifikant ändert: Kann zwischen „Gulag Orkestar“ und „The Flying Club Cup“ zumindest in den Arrangements noch ein gewisser Konnex hergestellt werden, so emanzipiert sich Beirut-Musik mit „The Rip Tide“ gegen die Macht musikalischer Konzepte und/oder Rahmungen. Das Gebläse ist nicht mehr auf orchestrale Opulenz ausgelegt, sondern auf Akzente aller (solistischer, leitmotivischer, interpunktierender …) Art; Nuancen, Zwischentöne, rhythmische Variationen, Passagen des Innehaltens, Sich-Sammelns bekommen – je nach Ausrichtung der einzelnen Platten – mehr Prominenz. Dazu bezeugt Condon ohne falschen Genierer eine Affinität zu durchaus eingängigem Pop.

Elegisch

Was die Musik allerdings seit „The Flying Club Cup“ nie mehr verliert, ist ihre elegische Anmutung: Dafür sorgt allein Condons sonore, aber auch trauerumflorte Chorknaben-Stimme; auch überschlagen sich seine nachdenklich-reflexiven und bisweilen verschatteten Texte nicht wirklich vor Optimismus.

Zach Condon (© Lina Gaisser)

Die noch nicht einmal 40 Jahre währende Lebensgeschichte des langjährigen Wahl-Berliners Zach Condon ist denn auch nicht arm an Krisen: Scheidung, Schreibblockade, schwere Probleme mit den Stimmbändern und Depressionen haben ihn bereits heimgesucht und auch Probleme mit und bei öffentlichen Auftritten hervorgerufen.

Ein paar Spurenelemente Fröhlichkeit oder Ausgelassenheit gibt es bei Beirut immerhin auch: Auf dem Longplayer „No No No“ (2015) – einem typischen Übergangswerk -, und dem lohnenden Compilation-Album „Artefacts“ (2022), das u.a. einen Song auf Portugiesisch (ein Cover von „O Leãozinho“ vom brasilianischen Singer/Songwriter Caetano Veloso), ein Instrumental mit dem Titel „Die Treue zum Ursprung“ und nicht zuletzt alle fünf Songs der legendären, nach „Gulag Orkestar“ 2007 veröffentlichten EP „Lon Gisland“ enthält, darunter natürlich auch den bis heute allerpopulärsten Beirut-Song „Elephant Gun“.

Echos des Elefantengewehrs

Mit „Elephant Gun“ verbindet das neue Beirut-Album „A Study Of Losses“ überraschend starke Bande. In dessen surreal-unheimlichem Video, das einen schnauzbärtigen Condon durch bacchantische Szenarien mit bizarren Masken und Zirkusakten taumeln lässt – spiegelt sich das Gefühl wider, das den eher introvertierten Musiker nach dem unerwarteten Erfolg von „Gulag Orkestar“ übermannt hatte: als skurrile Zirkusnummer/Schaustück in einer Schublade präsentiert zu werden (womit wir wieder beim „Balkan-Pop“ wären).

Insofern ist es an Kuriosität kaum zu übertreffen, dass „A Study Of Losses“ eine Auftragsarbeit für einen Zirkus ist. Beim Auftraggeber handelt es sich um die schwedische Kompani Giraff, die sich zum Ziel gesetzt hat, poetische Narrative und gesellschaftliche Themen in kunstvoll choreographierten Performances aufzubereiten und solchermaßen wohl mehr Ähnlichkeit mit dem Serapionstheater denn einem klassischen Zirkus hat.

Für die Aufnahmen zur letzten Beirut-LP „Hadsel“ verzog sich Zach Condon hoch in den Norden Norwegens (© Lina Gaisser)

Das aktuelle Projekt der Kompani Giraff basiert auf Judith Schalanskys Buch „Verzeichnis einiger Verluste“. In diesem spürt die deutsche Autorin erzählerisch Lebewesen und Dingen nach, die verschwunden oder verschollen sind: etwa dem ausgestorbenen Kaspischen Tiger, dem devastierten Palast der Republik, den Liedern der Dichterin Sappho, dem Religionsgründer Mani. Sehr spezielle Protagonist/innen beleben diese Geschichten: eine Greta Garbo, die sich fragt, wann sie wohl gestorben sein mag, oder ein Mann, der versucht, alle verlorenen geistigen und materiellen Errungenschaften der Menschheit zu archivieren.

Verlust und das Wesen der Vergänglichkeit, das sind regelmäßig wiederkehrende Topoi in Zach Condons Inhalten, besonders ergreifend dargeboten zuletzt etwa in „So Many Plans“ auf der elegischen Beirut-LP „Hadsel“ von 2023. Somit war Condon dann doch rasch an Bord, als er von Kompany Giraff um den Soundtrack zu ihrem Projekt gebeten wurde.

Feierliche Barock- und Renaissance-Stimmung

18 Stücke enthält „A Study Of Losses“: 11 sind gesungen, 7 sind instrumentale, wesenhaft an Ambient Music anstreifende Stimmungsbilder. Der Opener „Disappearances And Losses“ weckt als gravitätische Abfolge weniger Orgel- und Synthesizer-Töne sogar Erinnerungen an den Drone-Sound, der Brian Enos großes Album „The Ship“ einleitet.

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Auf „A Study Of Losses“ ist allerdings der stilistische Fokus auf Barock und Renaissance gesetzt; Streicherensemble und Cello dominieren das Klangbild, flankiert von Piano, akustischen Saiteninstrumenten und Bläsern in Moll. In „Forest Encyclopedia“ meint man sogar eine Pedal-Steel-Gitarre zu hören, die allerdings niemandem zugeschrieben ist außer allenfalls Condon selbst (der simpel mit „alle Instrumente außer wo angegeben“ verzeichnet ist).

In der zweiten Hälfte des Albums wird indessen ein sehr früher und fast in Vergessenheit geratener Teil der musikalischen Vergangenheit des Zach Condon wiederbelebt: Schon vor seiner Karriere mit Beirut hatte der 14-Jährige sich an Electro-Pop versucht. 2009 führte er, begleitet von nicht wirklich wohlwollender Kritik, die erwachsene Version in Form elektronisch gefertigter Songs auf der zweiten Hälfte der Doppel-EP „March Of the Zapotec / Holland“ erstmals öffentlich vor.

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Ein maßgeblicher Anstoß zu Condons Faible für elektronische Musik waren die Magnetic Fields und ihr genialer Songschreiber Stephin Merritt. Dessen kompositorische Handschrift hatte in weiterer Folge auf das gesamte Werk von Beirut einen veritablen Impact und ist seit „The Flying Cup Club“ regelmäßig herauszuhören.

„A Study Of Losses“ soll insbesondere Merritts Opus Magnum „69 Love Songs“ viel an Inspiration verdanken. In „Guericke´s Unicorn“, einem der Höhepunkte des Albums mit minimalistischem Keyboard-Leitmotiv, luftigem Synthie-Schwirren und so distinktiv wie lässig in Szene gesetzten Tonhöhenverschiebungen in der Gesangsmelodie, tritt dieser Einfluss auch klar zutage, an anderen Stellen eher subkutan.

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Textlich taucht Condon, der nicht unbedingt ein großer Poet im Sinne von blumigen oder besonders kryptischen Metaphern, wohl aber ein Autor mit beträchtlicher Imaginationskraft ist, tief in Schalanskys Szenarien ein. Dergestalt nämlich, dass er beizeiten als erzählerisches Ich die Identitäten von Wesen(heiten) aus ihrem Buch annimmt. Er versetzt sich in einen ehemaligen Bewohner einer verlassenen barocken Luxusvilla am Rande Roms, spürt mit fast misanthropischer Skepsis einer angeblich paradiesähnlichen untergegangenen Insel im Pazifik nach und findet am Ende Frieden im Meer der Stille – recht eigentlich: findet Frieden als Meer der Stille.

 

Beirut: A Study of Losses (Pompeii Records)

Verlust und das Wesen der Vergänglichkeit, das sind regelmäßig wiederkehrende Topoi in Zach Condons Inhalten, insofern konnte er sich mit dem Projekt des Zirkus Kompani Giraff mühelos anfreunden.