Neue Geschichten von Johnny
„Augendisko", das überragende fünfte Album der Grazer Formation Love God Chaos, richtet sich „Im Kopf von Lisa Eckhart" häuslich ein und brilliert mit Vielfalt und Sprachspielen.

Love God Chaos: Augendisko (Engine Records)
Der Grazer Rock hat’s irgendwie mit den Augen. Die eine überragende Band, Rote Augen, hat sie im Namen und paraphrasiert damit ihre LP-Titel („Augenlieder“, „Augenblicke“). Die andere, Love God Chaos, nennt ihren jüngsten Longplayer „Augendisko“ – und ihr Leader John Krempl trägt eine Augenklappe wie weiland Dr. Hook-Sänger Ray Sawyer († 2018).
Bei Krempl ist die Kappe einer Augenerkrankung geschuldet, die mehrere Operationen nötig machte und, wie der Titel des neuen Albums nahelegt, wilde und vielfarbige optische Wahrnehmungen verursachen dürfte.
Und dann haben die beiden Bands auch noch gemein, dass man ohne die geringste Übertreibung oder patriotische Verblendung ihre Frontmänner zu den allerbesten Textern des deutschen Sprachraums zählen kann.
Dabei haben beide auf Englisch angefangen: Rote-Augen-Sänger Matthias Krejan im Sado Maso Guitar Club und bei The Incredible Stackers; John Krempl, der eigentlich Marcus Heider heißt, in den 1990er-Jahren bei The Trainleaders (der Name mit leicht fragwürdiger Ironie vom militärischen Rang des Zugführers abgeleitet ist). Notabene hat Krejan auf dem zweiten Love God Chaos-Album „Von der Unmöglichkeit des Nichtscheiterns“ gesanglich mitgewirkt.
„Augendisko“ ist bereits das fünfte Album des nachgerade kriminell unbekannten Quartetts. Österreich müsste unendlich stolz sein auf eine seiner avanciertesten Bands, die stilistisch kaum Grenzen kennt und ihre Exkursionen durch unterschiedlichste Genres mit einer Souveränität und Sicherheit exerziert, wie sie nicht nur hierzulande beispiellos, sondern auch international selten ist.
Die Musik von Love God Chaos bewegt sich in einem weiten Rahmen zwischen Rock, Funk, Soul, Experiment und einem Progressive Rock, dem so gar nichts von der diesem Genre oft anhaftenden Steifheit und Prätentiosität eignet.
Zwischen Hardrock, Soul, New Wave und großem Epos
„Augendisko“ beginnt mit einem schweren Gitarren-Riff und einem Gib-ihm-Angeber-Solo von der Art, an der der regressive Teil in uns gerne bei Konsorten wie AC/DC seinen unschuldigen Spaß hat. Die Hintergrundstimmen im Refrain verleihen dem Song indes einen leichten, aber reizvollen psychedelischen Einschlag.
Das zehnminütige „Johnny gegen den Rest der Welt“ ist, eingeleitet und immer wieder zugespitzt von stolzen Streichern, durch mehrere großartige melodische Wendungen mäandernd, genau eine dieser Epen, die Love God Chaos so zwanglos und buchstäblich ungekünstelt können wie kaum irgendwer sonst.

Love God Chaos mit John Krempl (2.v.l.) © Marija Kanizaj
„Im Kopf von Lisa Eckart“ ist eine gelungener Exkursion in südstaatlichen Soul und klingt entfernt an die Lambchop der „Nixon“-Phase an. „Muss das so laut sein?“ kommt als (dezent bläserverstärkter) Uptempo-Rock at its best, „Garagenherz“ als ein hübsches Stück, dass durch eigentlich minimale, aber prägnante Keyboard-Tupfer einen Schwenk Richtung mainstreamigem New-Wave-Rock von Formationen wie Real Life annimmt.
Texte als eigenständige literarische Form
Das Allerbeste aber kommt zum sprichwörtlichen dicken Ende: Der letzte Song „Alle gehen, keiner bleibt“ – der zweitlängste der LP – lässt sich zunächst an wie der durchaus nicht seltene Abschlusssong einer Platte, die zuvor ihren Hörern nicht wirklich wenig an Herausforderungen zugemutet hat: eine wunderschöne, wehmütig langsame, mehrstimmig intonierte, streicherbehübschte, schlagzeuglose Ballade über Abschied, Weggehen, das Verlassen eines Orts. Doch statt sanft zu verklingen, baut sie, mit Andeutungen von Dissonanzen und Störgeräuschen, eine mantra-artige Coda auf, in der die (titelgebenden) Worte „Alle gehen, keiner bleibt“ wieder und wieder rezitiert werden, um am Ende für 1:20 Minuten das Schlagzeug zu aktivieren und für die finalen 20 Sekunden auch noch ein grobes Gitarren-Riff auf den letzten Weg zu schicken.
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In diesem Rahmen bewegt sich ein Wortwerk, das sich als Beleg für die (per se gewiss etwas kühn anmutende) These eignet, dass in gelungenen Fällen die Texte von Pop-Songs den Rang einer eigenständigen literarischen Form einnehmen können, für die etwas andere Gesetze gelten als für geschriebene Lyrik und Prosa, weil sie ja mit der Musik interagieren (sollten).
Eines der anschaulichen Beispiele dafür ist „Im Kopf von Lisa Eckhart“, wo zu oben erwähntem, gemächlichem südstaatlichem Soul-Groove Begriffe und Redewendungen paraphrasiert werden: „Wo Großhirnrinder weiden im Gedächtnistal“; „Das Wortregal ist immer aufgeräumt“; „Ich koch mir ein weiches Einerlei“.
Derselbe Song demonstriert auch gleich am Anfang auf ziemlich narrensichere Weise, wie obsolet es ist, Krempls Inhalte auf ihren realistischen Gehalt hin abzuklopfen. Niemand wird die Zeilen „Neben dem Frust und der Schreibblockade – Im Kopf von Lisa Eckhart* / Lauert die Lust auf Schokolade – Im Kopf von Lisa Eckhart“ für wahr halten. Gleichwohl kreieren sie eine eigene poetische Wirklichkeit – die einzige Wirklichkeit, die in diesem Universum zählt.
Was der (etwas in Vergessenheit geratene) britische Sänger Marc Almond auf einer LP und deren grandiosem Titelsong verheißt, präsentiert John Krempl schon das ganze Werk von Love God Chaos hindurch: „Stories Of Johnny“.
Wie auf jeder LGC-Platte taucht auch auf „Augenblicke“ die nämliche Figur auf: Alter Ego von Krempls lyrischem Ich, Kunst- und halb auch Witzfigur insofern, als im englischen Spitznamen etwas gleichermaßen künstlich wie ironisch Überhöhtes mitschwingt.
Niete in der Lebenslotterie
In „Johnny gegen den Rest der Welt“ präsentiert sie sich als „Anonymer Melancholiker“, „Incredebiler Hulk“, „Kavalier und Krawalleur“, „schmust mit der Muse“, singt „Vom blauen Himmel und vom Heimweh“, von „Sweet Home Alhambra“ und lässt alle an ihrem Schicksal teilhaben: „Wir sind dabei, sind dabei – Wenn du die nächste Niete ziehst – in deiner Lebenslotterie / Wir sind dabei, wenn du dich selbst auf Händen trägst“.
In „Muss das so laut sein?“ wird diese Figur zum Erkenntnisgegenstand erhoben: „Du erwähnst oft Johnny, sag mal kennt ihr euch privat? – Wie ist er eigentlich in Real Life?“, und etwas später: „Du erinnerst mich an Johnny, seid ihr irgendwie verwandt? – Ihr wirkt auf mich wie Brüder“.
Viele seltsame Gestalten bevölkern diese „Augendisko“: „Funky Funkel – Der hat alles, was dich schweben lässt“; „Sternenspringer Henri“; „Süße Jungs“, die „leider nur Pfosten an der Rue d‘Amour“ sind.
Sie alle sind Durchreisende mit unbekanntem Ziel. „Alle gehen, keiner bleibt“ ist letztlich alles, was wir sicher von ihnen wissen.
*Die hier verwendeten Zitate folgen orthographisch ihrer Darstellung im CD-Booklet.

Love God Chaos: Augendisko (Engine Records)
Große Epen können Love God Chaos so zwanglos und buchstäblich ungekünstelt wie kaum irgendwer sonst.