Reise nach Tschernobyl
Auf seinem neuen Album „Friedhof der Moral" wirft Brezel Göring, ehedem eine Hälfte von Stereo Total, den Mitmenschen den Fehdehandschuh hin.

Brezel Göring & Psychoanalyse: Friedhof der Moral (Stereo Total Records/Flirt 99)
„Such dir einen Arzt”, fordert Françoise Cactus gleich zu Beginn – und im Sinne des psychoanalytischen Widerstands wird die Aufforderung verneint: „Ich brauche keinen Arzt“, widerspricht Brezel Göring. Denn: „Ihr seid alle Teil meines Problems.“ Die pathologische Matrix ist damit ausgebreitet: Das Ich auf Kollisionskurs mit den anderen.
Zusammen mit Cactus, bürgerlich Françoise van Hove, gründete Göring, bürgerlich Hartmut Richard Friedrich Ziegler, 1993 Stereo Total in Berlin. Deren Markenzeichen waren Sixtiesklänge mit einem Hauch Lakonie, punkiger Synthiepop, Cactus‘ französischer Akzent und freche, ironische Texte. So heißt es etwa bei „Schön von hinten“ als Inversion zur typischen Schlagerlyrik: „Du bist schön von hinten/Mit ein paar Metern Entfernung/Schön bist du im Nebel/Wenn du gehen musst/Bitte, bleibe nicht bei mir“. Gesungen wurde auf Deutsch, Französisch, Englisch und Japanisch. Der Song „I Love You, Ono“ vom Album „My Melody“ brachte der Band sogar „wahnsinnig viel Geld“ (Göring) ein, da er für einen Werbespot von Dior verwendet wurde.
2021 verstarb Cactus an Brustkrebs. Sie wurde auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof Berlin im Ortsteil Schöneberg begraben.
Der Tod verändert Menschen. Manches relativiert sich, ehemals Bedeutendes wird unbedeutend. Und immer wieder erscheint, wie der Kulturphilosoph Bazon Brock meinte, der Tod – weil völlig ungerecht – als „eine Schweinerei“, für die es keinen Trost gibt.
Sprache als Ventil
Göring verbrachte nach dem Tod von Cactus eine Zeit in Frankreich und nutzte die Sprache als Ventil. Das Ich wird zu einem Anderen. Hatte Cactus vornehmlich die Texte bei Stereo Total geschrieben, derweil Musikmachen für Göring mit Instrumenten identifiziert war, so folgt die Musik nun der Sprache. 2022 erschien das erste Soloalbum, „Psychoanalyse Volume 2“, schon damals mit Archivaufnahmen von Cactus.

Meister des schrägen Chansons: Brezel Göring & Psychoanalyse © Tina Linster
Der Nachfolger, „Friedhof der Moral“, wurde zusammen mit Görings Band Psychoanalyse eingespielt. Melodiös wird diesmal mit Science-Fiction-Synthi schwungvoll durchs All gehuscht und Bläser, wie einem Westernfilm entsprungen, sorgen für Atmosphäre. Das Ich rückt noch einmal mehr ins Zentrum, doch die Trauerarbeit bleibt. Ob die Gedanken nun „Sexuell aufgeladen“ sind, die „Apokalypse“ nicht davonläuft oder die Welt schöner ist „Ohne Licht“: Das Ich taumelt durch Worte und Zeilen, begleitet von Garage- und einem Hauch Punkrock, Bossa Nova oder Disco – und stets auch von einer leicht nihilistischen Attitüde: „Jemand soll mich nach Hause bringen, weg von dieser öden Stätte des Verfalls“, schwankt Göring nölig durch Berlin. Manchmal hilft auch nur ein Schmerzmittel wie „Tilidin“. Wenn es schon eine Reise sein muss, so nach „Tschernobyl“: „Auf dem Weg will ich mich verfahren. Auf schmutzigen Toiletten Sex mit Unbekannten haben. Mir geht’s auch ohne Essen gut. Und wenn, dann höchstens Fast Food. Ich bleibe in Berlin und nehme Amphetamin.“
Göring gelingt es, durch minimalistischen Spracheinsatz, der von Wiederholungen lebt, und musikalische Reduktion einen Wiedererkennungseffekt zu erzielen. Die Klänge der Worte geben die Melodien der Musik vor, deshalb reichen im Prinzip wenige Takte, um einen Song von Göring als einen solchen identifizieren zu können. Neben auf Deutsch gesungenen Songs gibt es auch vier auf Französisch vorgetragene: Göring bleibt ein Meister des schrägen Chansons, bei dem der Tod immer mittanzt: „Die letzte Kugel ist für mich. Das Spiel geht weiter ohne mich.“

Brezel Göring & Psychoanalyse: Friedhof der Moral (Stereo Total Records/Flirt 99)