Eine Gruppe möcht‘ ich sein
Auf kollektive kreative Energie setzt Sharon Van Etten auf ihrem siebenten Album: „Sharon Van Etten & The Attachment Theory" gibt sich betont als Bandprodukt - mit stellenweise grandiosem Resultat.

Sharon Van Etten & The Attachment Theory (Jagjaguwar)
Dass Pop heute einer der wenigen Bereiche ist, in denen Frauen recht gut (auf)gestellt sind, haben Musikerinnen wie sie in nicht unwesentlichem Ausmaß in die Wege zu leiten geholfen. Dabei schien Sharon Van Etten, die Ende Februar 44 Jahre alt wird, zunächst wenig zum Role Model einer selbstbewussten, undogmatischen modernen Singer/ Songwriterin des 21. Jahrhunderts zu befähigen, die zum Beispiel einer Angel Olsen nicht unwesentlich den Weg geebnet hat.
In der Schule sei sie, wie sie in einem Generic Interview – einem von der Plattenfirma zu PR-Zwecken produzierten, in günstigen Fällen wie diesem aber trotzdem informativen Gespräch – verkündet, immer der schüchterne Typ gewesen, der zum Songschreiben zu Hause die Schlafzimmertür abschloss und sich in den freien Minuten in der Schule mit der Gitarre in eine Ecke verzog.
Ihre Introvertiertheit und Reklusivität spiegelten ihre fragil und sparsam arrangierten frühen Platten durchaus wider. Aber man spürte schon damals, dass in der Sängerin, Gitarristin und Violinistin Sharon Van Etten mehr steckte als nur gefühlige Liedermacherei. Panikattacken, seelische Verwundungen und irgendwo zwischen Bitterkeit und Sarkasmus schwelende Einsichten in eigene Schwächen – das drängte über ihre eindringliche Stimme in einer Intensität nach außen, die die Hürde der „Normalität“ (sprich: Durchschnittlichkeit) überwand und Unverwechselbarkeit generierte.
Durchbruch in den Zehner-Jahren
Im Laufe der Jahre – die Rede ist von den frühen Zehnern – nahm der Indie-Folk Van Ettens Muskeln, Rock-Einflüsse und weiter an Format an. Auf den hoch gehandelten Alben „Tramp“ (2012) und „Are We There“(2014) konnte sie bereits auf die Unterstützung von hochkarätiger Indie-Prominenz wie Zach Condon (Beirut), Jenn Wasner (Wye Oak), Jonathan Meiburg (Shearwater, später auch Loma) oder Adam Granduciel (The War On Drugs) bauen.
In den auf „Are We There“ folgenden Jahren verfolgte Van Etten andere Prioritäten als Musikmachen, bekam ein Kind, spielte in einer Netflix-Serie und begann ein Psychologiestudium. Danach übersiedelte sie mit Mann und Kind von Brooklyn nach L.A.

Sharon Van Etten heute mit ihrer dreiköpfigen Attachment Theory (© Devin Oktar Yalkin)
Bei ihrem nächsten regulären Album „Remind Me Tomorrow“ (2019) ist bereits eine Trendwende hin zu Synthesizern und elektronischem Gefrickel zu bemerken.
Während der Pandemie schrieb sie weitere Songs, veröffentlichte Weihnachtslieder und 2021 unter dem Titel „Like I Used To“ ein schwungvolles Duett mit Angel Olsen.
Van Ettens sechster Longplayer „We’ve Been Going About This All Wrong“ war 2022 eher vom Typus Wundertüte – also von ungefähr allem etwas, von akustischer Ballade über Elektronik bis zu orchestralem Pomp.
Sharon und die Bindungstheorie
Ihr neues Album ist rein stilistisch nicht einmal so dramatisch weit von den Vorgängern entfernt. Nichtsdestotrotz stellt es für Van Etten eine gravierende Neuorientierung dar: Es ist nämlich ausdrücklich als Band-Effort ausgewiesen, bei dem alle der zu drei Vierteln weiblichen Mitglieder – neben der Hauptdarstellerin sind das Jorge Balbi (Schlagzeug, Maschinen), Devra Hoff (Bass, Gesang) und Teeny Lieberson (Synthesizer, Klavier, Gitarre, Gesang) – an der Musik mitgeschrieben haben. Nur die Texte sind noch in Van Ettens solitärer Hoheit verblieben.
Das Ganze firmiert unter dem tollen Namen Sharon Van Etten & The Attachment Theory. Sharon Van Etten und die Bindungstheorie. Eigenen LP-Titel braucht’s da natürlich keinen mehr.
Lange Zeit war Sharon Van Etten die Organisationsform Band so fremd wie dem gegenwärtigen Präsidenten ihres Landes ein humaner Impuls. Als sie Open Mics und ähnliche Veranstaltungen spielte, fühlte sie sich von ihr sogar richtig eingeschüchtert: „Es war nicht vor meinen Dreißiger Jahren, dass ich live mit einer Band gespielt habe“, erinnert sie sich.
Im Laufe der Jahre ist indes nicht nur ihr künstlerisches Vermögen gewachsen, sondern auch ihr kommunikatives Talent im Umgang mit anderen Musikern. Das gegenwärtige Projekt erwuchs aus den Arbeiten zum Vorgänger „We’ve Been Going About This All Wrong“. Da entstand die Idee, statt eines Proberaums gleich eine Art Bandcamp mit einem Haus, einigen Trailern und einem Studio zu mieten, wo man zusammen essen und spielen konnte, das Equipment aufgebaut lassen konnte und nicht dauernd irgendwer ein- und ausging.

© Susu Laroche
Und weil Van Etten laut ihren eigenen Worten eine Pause von sich selbst brauchte und der Musik größere Freiheiten gewähren wollte, wurde da draußen im Yucca Valley am Nordrand des Joshua-Tree-Nationalparks einfach einmal drauflos gejammt. Zwei Songs, „I Can’t Imagine (Why You Feel this Way)“ und „Southern Life“, entstanden innerhalb einer Stunde; der Rest folgte innerhalb einer Woche.
Spielfreude
Van Etten hat es sich, wie schon angedeutet, mittlerweile ganz gut im elektronischen Format eingerichtet. Instinktsicher sind das aufgekratzte Tuckern, Schwirren, das abwartende-lauernde Wabern der Synthies, die kräftigen Bässe und nicht zuletzt die für dieses stilistische Ambiente charakteristisch wuchtigen, hallenden Drums in Szene gesetzt.
Kontrastierend zur solcher Musik öfters einmal innewohnender Tendenz zu Glätte und/oder Sterilität vermittelt der Jam-Charakter – den man tatsächlich heraushört – eine fast bierlaunige Spielfreude. Dabei ist der Sound hochkonzentriert, bisweilen sogar ein wenig angespannt, präzise akzentuiert und meistert große Intensitätsverschiebungen.
„Live Forever“, der Opener, der nichts mit ähnlich oder gleich lautenden Titeln von Queen und Oasis zu tun hat und sich auch nicht wirklich mit ewigem Leben beschäftigt, sondern den nicht minder nichtigen Versuchen, dem Altern einen Riegel vorzuschieben, demonstriert stellvertretend für mehrere ähnlich angelegte Songs recht schön die Kunst der Zuspitzung: Mit einem ziemlich unvermittelten Stimmumschlag Van Ettens, deren Eindringlichkeit ein halbes Orchester ersetzt, steigt das Lied, von symphonischen Synthies emporgetragen wie auf einer Wolke, ins Hymnenhafte bzw., wie es hier vielleicht angebrachter ist, Sakrale, lautet doch eine seiner letzten Zeilen „Must we pray? Let us pray“.
Mit opulenter Wucht donnert das Quartett durch (das inhaltlich natürlich der allmächtigen Omnipräsenz des Smartphones gewidmete) „Idiot Box“; das Kontrastprogramm bringt gleich darauf „Trouble“, der austarierteste Track der LP.
Flott, von einer aufgekratzten, wendigen Gitarre angetrieben, prescht „Indigo“ durch ein hübsches Stück Postpunk, während der Bass-getriebene Dancefloor-Pop von „I Can’t Imagine (Why You Feel this Way)“ wohl bewusst Erinnerungen an die Talking Heads weckt.
Das auch ob seines im Text angerissenen globalen Problembewusstseins ziemlich pathetische „I Want You Here“ ist gewiss nicht die größte Nummer des Albums, aber ein feierliches Finale musste einfach sein …

Sharon Van Etten & The Attachment Theory (Jagjaguwar)
Wenn Sharon Van Etten eindringlich wird, ersetzt sie ein halbes Orchester