Imaginäre Freunde & böse Mütter

Songs & Videos von Pop-Künstlerinnen, die im ersten Halbjahr 2025 mehr oder weniger Aufmerksamkeit generierten, wie u.a. Lady Gaga & Lucy Dacus oder Nadia Reid & Violetta Parisini.

Von
2. Juli 2025

Produktive Selbstbespiegelung als imaginärer Freund: Sophia Kennedy (c) Marvin Hesse

„Wenn an der Pop-Musik dieses Milleniums etwas gesichert konstatiert werden kann, ist das der Vormarsch der Frauen. (…) Wirklich frappant ist die exorbitant angewachsene Anzahl an ehrfurchtgebietend guten Sängerinnen, die ihre Musik (ohne ein Heer von Co-Writern) selbst schreiben, zu wesentlichen Teilen auch selbst einspielen und nicht zehn Produzenten und ganze Dutzendschaften von Marketing-Experten brauchen, um zu wissen, ,wie sie sich am Markt positionieren sollen’…“

Das hat Kollege Bruno Jaschke in seiner Besprechung des neuen Albums der US-Sängerin Laele Naele geschrieben – und er hat damit, wie immer, natürlich vollkommen Recht. Der Vormarsch der Frauen ist das auffallendste Merkmal im Pop der letzten zehn bis zwanzig Jahre. Sowohl quantitativ (da gehören dann auch alle hinzu, die einen Rattenschwanz an Producern und Co-Writern beschäftigen, dafür mitunter freilich auch ein unglaubliches Ausmaß an Aufmerksamkeit generieren) als auch qualitativ, wofür wir uns auf dieser Plattform bekanntermaßen mehr interessieren. Und so haben wir in diesem ersten Halbjahr 2025 schon eine Reihe höchst bemerkenswerter Veröffentlichungen von Sängerinnen und Musikerinnen ausführlich berücksichtigt: Neben genannter Laele Naele etwa die neuen Alben von Anna B. Savage, Sharon Van Etten, Bria Salmena, Sophia Blenda oder Meka.

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Keine frühlingshaften Gefühle bei Saya Gray

Im Folgenden soll es nun um einige weitere Künstlerinnen gehen, deren (semi-)aktuelles Schaffen wir mit einzelnen Songs (aus zumeist neuen Platten) vorstellen wollen, im Sinne von pars pro toto, also dass die Songs/Videos einigermaßen exemplarisch für das derzeitige Werk stehen. Und wir beginnen mit der Kanadierin (mit japanischer Mutter) Saya Gray, die heuer mit „Saya“ ihr echtes Debütalbum vorgelegt hat (nach einigen längeren Veröffentlichungen vorweg), das gleich mit einem starken Statement loslegt: „This is why I don’t fall in love in springtime…“, heißt es in der Eröffnungsnummer „THUS IS WHY (I DON’T SPRING 4 LOVE)“ voll entschiedenem Widerstand gegen allzu frühlingshafte Gefühle. Das mag ihr – erfahrungsbedingt – unbenommen sein, mehr interessiert & beeindruckt, in welch musikalisch verführerischer Weise das kundgetan wird: in einem Mix aus auffahrenden Gitarren, blubberndem Soul und sirenenhaften harpsichord-Klängen, die dieser dezidierten Stimme ein so atmosphärisch dichtes wie abwechslungsreiches Umfeld (v)erschaffen.

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Amouröse Zurückhaltung bei Lucy Dacus

Der US-Sängerin und -Gitarristin Lucy Dacus kommt seit ihrer Teilnahme an der femininen „Supergroup“ Boygenius (gemeinsam mit Phoebe Bridgers und Julian Baker, mit der Dacus auch eine private Partnerschaft verbindet) weltweit noch etwas mehr Aufmerksamkeit zu als ihren bisherigen Veröffentlichungen (seit 2015). So auch ihrem heurigen Album, „Forever Is A Feeling“, in dem die queere Künstlerin einige offenherzige Einblicke in ihr Privatleben gewährt, wie auch im Song „Ankles“, der – wenn auch weniger entschieden als bei Saya Gray – ebenfalls mit amouröser Zurückhaltung beginnt: „What if we don’t touch?/ What if we only talk/ About what we want and cannot have?“ Es geht dann allerdings doch deutlich berührungsintensiver fort – freilich in musikalisch moderat einnehmender Weise.

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Massenchoreographie bei Lady Gaga

Erstaunlicherweise hat Lucy Dacus heuer auch einen Song von Lady Gaga aus deren aktuellem Album „Mayhem“ gecovert – und zwar ausgerechnet „Abracadabra“ (auf BBC Radio 1). Da sehen und hören wir uns aber doch lieber das Original an, auch wenn Lady Gaga ziemlich eindeutig nicht unter unser eingangs erwähntes Auswahlkriterium in Sachen weitgehend autonomes & eigenständiges (Musik-)Schaffen fällt. In Sachen Qualität kann man bei der US-Sängerin allerdings geteilter Meinung sein, weil sie mitunter durchaus beachtliche Ausreißer noch oben hat (neben viel aufgeregter mittelklassiger Monotonie).
Besagter Song gehört nicht unbedingt dazu, ist aber in anderer Hinsicht bemerkenswert. Die Lyrics sind, äh, ziemlich gaga: „Abracadabra/ Amor oo na na/ Abra ca da bra/ Morta oo gaga/ Abracadabra/ Abra oo na na …“, lautet der Refrain. Aber die Choreographie im Video dazu – tja, die hat was. Schließlich heißt das Motto gleich zu Beginn: „Dance or die“. Und in gewisser Weise tanzt die gesamte Company rund um die Lady (in Weiß) sichtbar um ihr Leben. Auch wenn man diese Darbietung in all ihrer Zackigkeit und Monumentalität als eine Art Wiederkehr Leni-Riefenstahl’scher Ästhetik empfinden mag, kann man sich der Faszination von Massenchoreographie und kollektiven Schrittfolgen – neben dem unwiderstehlich eingängigen Refrain – eben doch nur schwer entziehen.

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Die auffällig unauffällige Nadia Reid

Eine Anti-Lady-Gaga in praktisch jeder Hinsicht stellt die Neuseeländerin Nadia Reid dar. Sie tritt einem in ihrem äußerlichen Buchhalterinnen-Image völlig unverkünstelt entgegen (und auch öffentlich so auf) – und lässt ausschließlich ihre volltönende Stimme & ihre vielschichtigen Songs für und aus sich sprechen. Im Video zu „Hold It Up“ (aus ihrem jüngsten Album „Enter Now Brightness“) wird auch getanzt – aber was für ein quasi singulärer Unterschied zur grell-kollektiven Gaga-Show. Nadia Reid wird heuer im November übrigens beim Blue Bird Festival in Wien mit dabei sein – und auf den unspektakulär hochklassigen Auftritt dieser auffällig unauffälligen Singer/Songwriterin darf man sich jetzt schon freuen.

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Kein Firlefanz bei Arny Margret

Von einer deutlich kleineren Insel als Neuseeland, nämlich Island, stammt Arny Margret. Und auch bei dieser Singer/Songwriterin, die heuer mit „I Miss You, I Do“ ihr zweites Soloalbum herausgebracht hat, gibt es keinerlei Inszenierung oder Firlefanz, die von den berührenden, sparsam instrumentierten Songs ablenken würden (oder ihnen eine Meta-Ebene überstülpten). Gut nachhörbar ist das in „Took the train ‚til the end“ – im Video live dargeboten beim belgischen Sender Vrt Radio 1.

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Indie-Erinnerungen von Pippa

Von der Insel der Seligen, also aus Österreich (auch wenn dieser insulare Status wohl nur noch als Klischee & Einbildung existiert), präsentieren wir Songs zweier unterschiedlicher Sängerinnen & Künstlerinnen. Da wäre einmal „Nichts Tun“ von Pippa, die als Schauspielerin Pippa Galli eine veritable (Film-)Karriere hingelegt hat, aber eben auch als Sängerin (und Partnerin von Neuschnee-Musiker und -Kopf Hans Wagner) seit 2019 von sich reden/singen macht. In besagtem flottem Lied von ihrem heuer erschienenen Album „Träume auf Zement“ erkannte FM4 zurecht eine Anspielung auf die Pixies und deren Hit „Where Is my Mind“, nicht zuletzt weil Pippa sich darin (wie auf der gesamten Platte) an ihre Indie- und Grunge-Zeit erinnert, was in wiederum vermehrtem Einsatz von (Rock-)Gitarren zum Ausdruck kommt.

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Selbstreflexion auf Englisch bei Violetta Parisini

Violetta Parisini hat, nach einigen Jahren Pause (ihr letztes Album, „Alles bleibt“, war 2020 just zu Corona-Beginn erschienen & konnte damit seinen Titel nicht realiter einlösen), heuer wieder eine Platte herausgebracht, die „I Used To Have Nothing To Lose But Now I Have You“ heißt, womit schon verraten ist, dass die Wiener Sängerin & Pianistin nun wieder, wie schon zu Beginn ihrer Karriere, auf Englisch singt. Ansonsten ist sie ihrer selbstreflexiven, introspektiven Betrachtungsweise treu geblieben, wie etwa „Bad Mother“ zeigt, in welchem Song sie nicht nur ihre persönlichen Erfahrungen in der Mutterrolle (von zwei Töchtern) beschreibt & besingt („I’m overwhelmed, overworked, and too tired to sleep…“), sondern auch andere Mütter & Frauen darin bestärken will, sich frei zu machen von geschlechtsspezifischen Erwartungen, und für Gleichberechtigung auf allen Ebenen einzustehen.

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Das Selbstbekenntnis der Sophia Kennedy

Naturgemäß auf Englisch singt die in Baltimore geborene, allerdings schon lange in Berlin und Hamburg lebende Künstlerin & Sängerin Sophia Kennedy, die heuer im Frühjahr mit ihrem dritten Album, „Squeeze Me“, vorstellig wurde, einer reduzierteren Version ihres bisherigen, etwas theatralischen Werks, das man vielleicht am ehesten mit jenem ihrer US-Landsfrau Annie Clark aka St. Vincent vergleichen kann. „Imaginary Friend“ ist so etwas wie die programmatische Lead-Single von der aktuellen Platte, ein hypnotisch wirkendes, verführerisch knisterndes und mit fester Stimme vorgetragenes Selbstbekenntnis, über das Kennedy folgende Auskunft erteilt: „Es geht um die Sehnsucht nach der Realität und den Abschied von einer imaginären Vorstellung von einer Person. Erinnerungen und Sehnsucht können zur Besessenheit werden, der imaginäre Freund wird zum Feind. Die Entscheidung, loszulassen, ist daher ein Befreiungsschlag.“

Und damit lassen auch wir, ganz befreit & unimaginär, an dieser Stelle los …

Produktive Selbstbespiegelung als imaginärer Freund: Sophia Kennedy (c) Marvin Hesse

Der Vormarsch der Frauen ist das auffallendste Merkmal im Pop der letzten zehn bis zwanzig Jahre - sowohl quantitativ als auch qualitativ.