Liebestolle Baukräne und eine Weltkarriere in Eigenregie
Über Individualismus als kollektives Phänomen – und andere Paradoxien im hochspezialisierten Kultursegment Pop: Ein Jahres-Rückblick mit gespitzten Ohren.

Ein vielschichtiges Album des Jahres: "Humanhood" von The Weather Station (Fat Possum)
„Bin irgendwie bei Jimmy Hendrix, Janis Joplin, Stones, Degenhart, etc. stehengeblieben. Vielleicht noch ein bisschen Green Day …“
Das hat mir eine Bekannte heuer geschrieben, nachdem ich ihr eine Sammlung aktueller Songs zugeschickt hatte, mit denen sie anscheinend nicht allzu viel anfangen konnte. Es war entschuldigend & selbstvorwurfsvoll gemeint. Ich kenne noch andere, die sich ebenfalls irgendwie schuldig fühlen, wenn sie (pop)musikalisch nicht auf dem neuesten Stand sind, und – wenn überhaupt – lieber alten Vorlieben nachhängen. Dabei ist das, wie eine Studie heuer gezeigt hat (über die ich kürzlich – in einem Artikel über die Wings – berichtet habe) völlig normal: Man bleibt am liebsten bei Klängen aus den eigenen Jugendtagen hängen, weil diese mit tieferen Gefühlen & elementaren Erinnerungen verbunden sind (so wie etwa auch Gerüche).
Darum sind Retro-Trends auch so nachhaltig erfolgreich – nicht zuletzt aufgrund des demografischen Effekts, weil es eben so unglaublich viele (Boomer) gibt, die sich an den Soundtrack ihrer Jugend aus den 60er & 70er Jahren intensiv erinnern können. Trotzdem ist „Stehenbleiben“ – oder sagen wir freundlicher: Nostalgie – kein zwingendes Schicksal. Es entgeht einem auch allerhand, wenn man – so erfreulich das Wiederhören sich auch gestaltet – nur das hört, was man schon lange kennt. Es gibt viel lohnendes akustisches Neuland zu entdecken, Jahr für Jahr, und so auch heuer.
Fülle an Nischen & Trends
Damit sind wir beim eigentlichen Thema – einer Art von Rückblick mit gespitzten Ohren: auf Sounds, Songs, Alben & Konzerte des abgelaufenen Jahres, die einem besonders in Erinnerung geblieben sind (und die emotional wohl trotzdem nicht derart tief verankert werden – können – wie die Klänge aus mehr oder weniger fernen Jugendtagen).
Aber siehe/höre da: Auch Rückblicke und Bilanzen werden immer spezieller, immer individueller – und sagen oft mehr über jene aus, die sie gestalten, als über die sogenannte „Musikszene“, die retrospektiv bilanziert werden soll. Diese Art von Individualismus ist aber wiederum ein kollektives Phänomen – und ein zwangsläufiger Faktor in einem hochspezialisierten Kultursegment, mit einer unüberschaubaren Fülle an popmusikalischen (Neu-)Erscheinungen, Nischen & Trends. Niemand kann die alle überblicken („überhören“ schon eher . . .).
Auch als vermeintlicher „Nicht-Stehengebliebener“ passiert es einem, z.B. mir, immer wieder, dass ich etwa an plakatierten Ankündigungen von Konzerten in Wien vorbeigehe, deren Interpreten mir völlig unbekannt sind. Oder wenn ich die FM4-Jahrescharts höre, kenne ich einen gewissen, manchmal erstaunlich hohen Prozentsatz der gerankten 100 Songs nicht. Und heuer habe ich (erstmals) nicht einmal den von Kollegen Heimo Mürzl in seiner Jahresbilanz topgereihten österreichischen Act (die „Supergroup“ Alles Exhausted) gekannt!
Also alle, die ein – sowieso wenig sinnvolles – schlechtes Gewissen ob ihrer aktuellen Pop-Wissenslücken haben, seien hiermit beruhigt: Uns geht es auch nicht (so) viel anders. Auch wir wissen allenfalls, dass wir wenig wissen – und werden oft & gerne überrascht. Dazu muss man allerdings bereit sein. Denn es gibt schon verdammt viel gute Musik, nach wie vor.
Und damit komme ich nun wirklich zu meinen Überraschungen, sprich: zu meiner Jahresbilanz. Über die in meiner Jahreswertung (unten) gereihten internationalen & österreichischen Popalben mag ich nicht zu viele Worte verlieren, da jedes in der einen oder anderen Weise auf unserer Plattform bereits vorgestellt wurde, weshalb Links zu besagten Artikeln führen, aus denen man mehr erfährt als aus so mancher nachgereichten Bemerkung.
Weit über den Poprahmen hinaus
Wobei ich mich in diesem Jahr eher auf Songs (siehe die Sammlungen dazu hier) denn auf Alben konzentriert habe, quasi die Elementarteilchen im Pop, denn manchmal sagen diese mehr (aus) als ein ganzes Album, oder ragen aus diesem besonders hervor. Wie etwa – ganz buchstäblich und damit einer der Über-Songs für mich heuer – das Liebesduett zweier Baukräne: „Industrial Love Song“ heißt er und stammt von der britischen Formation These New Puritans (wobei in dieser betörenden Ballade Gastsängerin Caroline Polachek einen Gesangspart, quasi den weiblichen Kran, übernimmt).
In diesem speziellen Fall ist indes das Album, „Crooked Wing“, deutlich mehr als nur dieser eine Song, der nicht einmal typisch für den Rest ist, der aus einer (Über)Fülle an Klangideen und -ausführungen besteht, die weit über den üblichen Poprahmen hinaus in die Bereiche von Klassik, Minimal Music oder Industrial reichen. Daher lohnt hier unbedingt das (mehrmalige) Hören der gesamten Platte, die deswegen auch eine meiner beiden Top-Alben des Jahres ist.
Die andere, ebenfalls nur als Einheit hör- & verstehbar, stammt von der kanadischen Formation The Weather Station, die im Wesentlichen aus der Musikerin Tamara Lindeman besteht. Auf „Humanhood“ besingt sie – in songähnlichen, mitunter frei flottierenden Klanggespinsten aus Folk, Pop, Jazz und Ambient – die Stationen einer Identitätskrise, aber auch das nur andeutungsweise, was faszinierend fluide (musikalische) Stimmungen erzeugt.
Bon Iver hat, nach längerer Veröffentlichungspause, einen deutlich vernehmbaren Schritt aus persönlichen Krisen heraus gemacht: Auf dem zweigeteilten Album „Sable, fable“ öffnet der US-Musiker (nach drei noch in grüblerischen Selbstzweifeln befangenen Titeln) das Fenster – und herein strömen Helle, Zuversicht & Klangfülle (wie etwa im Zentralsong „Everything Is Peaceful Love“). Perfume Genius, hinter welchem (Projekt-)Namen der queere US-Künstler Mike Hadreas steckt, ist vor Krisen & Selbstzweifeln nie gefeit, was allerdings zu Klangäußerungen auf ästhetisch bestechend hohem Niveau führt – so auch auf „Glory“, welches Album zum Besten gehört, was das Fach Drama-Pop heuer zu bieten hat(te).

Ästhetisch die irrwitzigste Mixtur, mit ebenfalls enorm hohem dramatischem Potential, kredenzt die Katalanin Rosalía auf „Lux“, und zwar mit einer Mischung aus Flamenco, Opernarien, Latin-Pop, Eurovisions-Bombast (a la JJ) und schmelzend-schmachtenden Balladen – ein mehr als üppiges Hochamt. Eine ganz andersartige Stilvielfalt, in dezenterem Rahmen, aber mit weiten, anspielungsreichen Hallräumen, begegnet einem auf „Lotus“, dem Album der britischen Hip-Hop-Künstlerin Little Simz, das auch für Hörer, die diesem Genre weniger zugeneigt sind, bestens geeignet ist.
Musikalisches Stundenbuch
Im Jahr der Britpop-Renaissance – mit den Reunion-Konzerten von Oasis und den neuen Veröffentlichungen von Suede und Pulp – entscheide ich mich für die Band rund um Jarvis Cocker, die mit „More“ ihr erstes Album seit 24 Jahren herausbrachte, auf dem sich – neben vielen, überraschend frischen ein- & ausladenden Songs – mit „Got To Have Love“ auch eine fast schon überlebensgroße Hymne an das stärkste aller Gefühle findet.
Bleiben noch drei Entdeckungen aus dem heurigen Jahr: zuvorderst das aus Nottingham stammende Quartett Divorce und sein Debütalbum „Drive To Goldenhammer“, dessen (mich) begeisterndes Spektrum von Turbo-Folk über Indie-Pop, Alternative-Country bis zu schrägen Experimentalklängen reicht & hinreißende Zwiegesänge enthält. Weiters das Soloprojekt Dressed Like Boys des aus Belgien stammenden Musikers Jelle Denturck, dessen (namenloses) Debüt von einer bezaubernden Leichtigkeit und berückenden Schönheit durchzogen ist, wie man bei (s)einem fulminanten Live-Auftritt beim heurigen Blue-Bird-Festival (mit Combo) erleben durfte.

Cautious Clay in Morgen-stimmung. © Travis Owen
Und dann noch das zumindest thematisch viele Stunden überdauernde Projekt des aus Liberia stammenden Clevelander Musikers Cautious Clay, der mit „Hours: Morning“ und „Hours: Night“ heuer gleich zwei Alben – zu unterschiedlichen Zeitpunkten – herausbrachte, die in jeweils acht Song-Kapiteln frühe (von 5 bis 12 Uhr) und späte Stunden (von 9 pm bis 4 am) in einer musikalisch wohltemperierten Mischung aus Pop, gepflegtem Rock und R&B abhandeln. In diesem Stundenbuch sollte wirklich für jede/n etwas dabei sein.
Innerhalb & außerhalb von Wien
Aus Österreich war heuer – wie auch die Kollegen Jaschke und Mürzl in ihren Resümees überzeugend feststellen & darlegen – viel Bemerkenswertes zu vernehmen. Damit wir uns hier aber nicht wiederholen, habe ich mich für diese 2025er-Veröffentlichungen aus heimischer Produktion entschieden: Für Cari Cari und ihr Album „One More Trip Around The Sun“, für das aus meiner (Hör)Sicht vor allem zwei Umstände sprechen: Dass sich das burgenländische Duo Alexander Köck und Stephanie Widmer mit seinem staubtrockenen Repititionssound wie kaum ein zweiter heimischer Act international durchsetzen konnte – mit Headliner-Auftritten europaweit & auch in den USA. Und dass sie, zweitens, nahezu alles – Produktion, Label, Booking – in eigener Hand (be)halten. Eine Weltkarriere in Eigenregie – das findet man auch nicht alle Tage. Schon gar nicht in Österreich.
Die Strottern zieht es im Gegensatz dazu nicht allzu weit aus Wien hinaus – dafür sind sie hier so allgegenwärtig, dass ihre stupende Qualität, ihr musikalisch-textliches Fein-Tuning, mittlerweile ein wenig zu sehr & zu oft unter künstlerische Selbstverständlichkeit fällt. Ihre heurige Kooperation mit der JazzWerkstatt Wien, im Album „Sieben Zwetschken“ gipfelnd, zeigt ihre einzigartigen Qualitäten auf mehrfach gebündelte Weise, weil dem kleinen Ganzen der Herren Lendl & Müller dank der Arrangements des versierten Septetts (und raffiniert sprachspielerischer Texte verschiedener Autor:innen) dabei noch ein großes Stück zusätzlicher Möglichkeiten und Dimensionen hinzugefügt wird.
An (musikalischer) Vielfalt und Sprachspielen fehlt es auch der Grazer Formation Love God Chaos nicht, wie ihr fünftes Album, „Augendisko“, einmal mehr eindrücklich beweist, über welches – und über dessen hierzulande noch immer skandalös unbekannte Erzeuger – Bruno Jaschke an anderen Stellen schon alles (Zu)Treffende gesagt, bzw. geschrieben hat.
Aus Graz kommt auch das Trio Sladek, das auf „Things Gonna Change“ mit 60er-Jahre-Soul für analoge nostalgische Wärme sorgt. Der vielfach verdiente Musiker und Autor Hans Platzgumer hat das heurige Jahr mit gleich zwei Veröffentlichungen bereichert: dem Buch „What Goes Up Must Come Down“ – klugen, teils autobiografischen Essays zur Evolution von Pop(Stilen) – und einem weiteren wunderbar zeitlosen Album seiner Formation Convertible, „Favorite Record“, das seinen titelgebenden Anspruch – zumindest bei mir – vollauf einlöst.

Und eine Stimme ist heuer auf höchst wunderliche Weise auch wieder (neu) erklungen: jene des unvergessenen, 2008 verstorbenen Hansi Lang, zu dessen 70. Geburtstag Thomas Rabitsch im Jänner ein Album mit 15 Songs aus (ur)alten Demos kompiliert und arrangiert hat. Berührendstes Stück darauf: „Heit bring mas Wasser Zruck (ins Meer)“. – Eine Aufgabe, der wir uns 2026 auch mit Hingabe widmen werden…
Die besten Popalben 2025 international
1. The Weather Station: Humanhood (CAN)
2. These New Puritans: Crooked Wing (UK)
3. Bon Iver: Sable, fable (US)
4. Perfume Genius: Glory (US)
5. Rosalia: Lux (ESP)
6. Little Simz: Lotus (UK)
7. Pulp: More (UK)
8. Divorce: Drive to Goldenhammer (UK)
9. Dressed Like Boys: Dressed Like Boys (BEL)
10. Cautious Clay: The Hours (Morning + Night) (US)
Die besten österreichischen Popalben 2025
1. Cari Cari: One More Trip Around The Sun
2. Die Strottern & JazzWerkstatt Wien: Sieben Zwetschken
3. Love God Chaos: Augendisko
4. Sladek: Things Gotta Change
5. Convertible: Favorite Record
5. Hansi Lang: Sing, Hansi!

Ein vielschichtiges Album des Jahres: "Humanhood" von The Weather Station (Fat Possum)
Es entgeht einem bei aller Retro-Freude auch allerhand, wenn man nur hört, was man schon lange kennt. Es gibt viel lohnendes akustisches Neuland zu entdecken, Jahr für Jahr, und so auch heuer.



